CfP/CfA Publikationen

Literatur und die Aporien des menschlichen Gedächtnisses

Deadline Abstract
30.06.2025
Deadline Beitrag
02.09.2025

CfP: Philologia 2/2025

Herausgeber: Andrea Mikulášová, Silvia Rybárová, Roman Mikuláš

Literatur und die Aporien des menschlichen Gedächtnisses

Die Erforschung des menschlichen Gedächtnisses hat sich in letzter Zeit stark verändert. Obwohl das Gedächtnis in erster Linie eine Kategorie der Psychologie ist, rückt es zunehmend in den Blickpunkt anderer Disziplinen, insbesondere der Kognitionswissenschaften, der Philosophie, der Anthropologie, der Linguistik und der Neurowissenschaften. Dieses Phänomen hängt unter anderem mit dem zusammen, was Fachleute als neuronale Wende bezeichnen. In einer Zeit des neuronal turn spielt vor allem die Literatur eine wichtige Rolle, indem sie sich Gedächtniskonzepte aus anderen Disziplinen aneignet und dieses Wissen in ästhetischen Formen (Erzählstrukturen, Symbole, Analogien, Metaphern) bewahrt.

Heutzutage ist das Gedächtnis auch eine der Schlüsselkategorien der Literaturwissenschaft, und es gibt mehrere mögliche Verbindungen zwischen Gedächtnis und Literatur. Der Dialog zwischen den außerliterarischen Diskursen der Erinnerung und der Literatur kann also verschiedene Formen annehmen.

Vor dem Hintergrund des Aufstiegs der Kognitionswissenschaften ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass die Fokussierung auf die neurobiologische Realität auch ein wichtiger Ansatz für aktuelle literaturwissenschaftliche Forschungsinitiativen ist. Anne-Kathrin Reulecke und Ulrike Vedder, Herausgeberinnen des Themenheftes Grenzen des Humanen der Zeitschrift für Germanistik, haben auf einen wichtigen Trend hingewiesen, nämlich die Zunahme der Produktion literarischer Texte, die „auf die rasanten Entwicklungen im Bereich der Lebenswissenschaften und der Medizin reagieren“ (Reulecke – Vedder 2018, 459). Dies gilt auch für literarische Texte, die sich mit Fragen des menschlichen Gedächtnisses beschäftigen.[1] Die erwähnte neuronale Wende zeigt sich in der Literatur vor allem in Geschichten, die Gedächtnisstörungen wie Amnesie, Alzheimer, Demenz usw. beschreiben. Diese Geschichten werden in der Regel von Autorinnen und Autoren verfasst, die weder Experten auf dem Gebiet der Neurologie noch von diesen Störungen betroffen sind.

In der französischen Literatur beispielsweise hat die Zahl der literarischen Werke, die sich mit der Alzheimer-Krankheit befassen, die vor allem die Kommunikationsfähigkeit und das Gedächtnis beeinträchtigt, in den letzten Jahren exponentiell zugenommen und wird in den verschiedensten Genres und aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt. Beispiele sind die autobiografischen Werke Une femme (Die Frau, 1988) und Je ne suis pas sortie de ma nuit (Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus, 1999) von Annie Ernaux, der Roman On n'est pas là pour disparaître (Wir sind nicht da, um zu verschwinden, 2007) von Olivia Rosenthal, der Comic La Tête en l'air (Kopf in den Wolken, 2013) von Paco Roca, das Kinderbuch Perds pas la tête Mamie (Verliere nicht den Kopf, Oma, 2008) von Françoise Laurent und viele andere. Während einige Texte die Erkenntnisse der medizinischen Geisteswissenschaften anwenden, bevorzugen andere metaphorische oder literarische Darstellungen von Gedächtnis- und Vergessensstörungen (Gefen 2023). Damit steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit diese Art von Literatur geeignet ist, neurobiologisch geprägte Gedächtniskonzeptionen medizinisch adäquat und literarisch-ästhetisch darzustellen.

Im Zusammenhang mit der Alzheimer-Krankheit, bei der es sich nach Dominique Viart um eine Art „verhindertes Gedächtnis“ (mémoire empêchée) oder „versagendes Gedächtnis“ (mémoire défaillante) handelt (2023), weist Alexander Gefen auch auf den breiteren gesellschaftlichen Kontext hin. Einer der Gründe für die Dominanz des Themas Alzheimer und anderer neurologischer Gedächtnisstörungen in der Literatur seien die Ängste des zeitgenössischen Menschen, die sich aus „dem Versagen des Gedächtnisses in einer mit Aufzeichnungsgeräten gesättigten Kultur, der Amnesie in einer sich beschleunigenden Welt, der Ohnmacht der Medizin in einem Zeitalter der Hybris, der Überalterung der Bevölkerung, der Schwächung der familiären Bindungen in einem neoliberalen Kontext“ usw. ergeben (2023, 1). Gefen sieht die zahlreichen Erzählungen über die Alzheimer-Krankheit im Rahmen des zeitgenössischen Phänomens der Erinnerungskultur, die mit dem Bedürfnis verbunden ist, in die Vergangenheit zurückzukehren und gegen das Vergessen anzukämpfen. Literatur beschränkt sich hier nicht auf die Beschreibung von Gedächtnisstörungen, sondern wird auch zu einem Werkzeug für die Therapie des schreibenden Subjekts und die Wiederherstellung zwischenmenschlicher Beziehungen.

In diesem Sinne impliziert die Betrachtung eines scheinbar primär naturwissenschaftlich-medizinischen Themas (z.B. Alzheimer-Krankheit) eine Vielzahl philosophischer und kultureller Fragen, die auch sozial- und geisteswissenschaftliches Wissen berühren. Es liegt auf der Hand, dass sich das Feld der Gedächtnisforschung in den letzten Jahren zunehmend ausdifferenziert hat, weshalb es auch immer schwieriger geworden ist, vom Gedächtnis als einem einzigen Fach zu sprechen. Die verschiedenen Forschungsbereiche sind mit entsprechenden Konzepten, Methoden und auch sehr unterschiedlichen Vorstellungen vom Gegenstand verbunden. Daraus folgt, dass auch die Literaturwissenschaft in ihrem Bemühen, das Phänomen der Erinnerung in der Gegenwartsliteratur zu verstehen, die Ansätze und Erkenntnisse der verschiedenen Disziplinen berücksichtigen muss, die von einer Reihe von Schriftstellern und Romanciers aufgegriffen wurden. Diese Erkenntnisse werden nicht einfach übernommen, sondern im Zuge des bewussten poetischen Akts transformiert und in eine neue Perspektive gerückt, umgestaltet und in einigen Fällen kritisiert oder in Frage gestellt. Das bedeutet, dass sie in der literarischen Umsetzung keinen normativen Anspruch haben, wie dies beispielsweise in der Biomedizin der Fall ist. Dennoch stellen die Phänomene des Gedächtnisses sprachlich geprägte Wissenskonzepte dar, die in der Literatur ein Medium finden, das entsprechende Darstellungsformen bietet.

Im Mittelpunkt des Themenheftes stehen somit die Prozesse des Erinnerns und Vergessens, die eine konstitutive Rolle spielen und selbst in den Fokus der Reflexion und Selbstreflexion der Protagonisten rücken. Im Rahmen des Heftes wollen wir nachspüren, wie literarische Texte auf wissenschaftliche Erkenntnisse zur Erforschung des menschlichen Gedächtnisses in der ganzen Bandbreite der Forschung, wie sie beispielsweise von Eric Kandel betrieben wird, zurückgreifen können. In seiner Gedächtnisforschung konnte sich Kandel lange Zeit nicht zwischen Psychoanalyse und Neurobiologie entscheiden. In der Tat näherte sich jede dieser Perspektiven dem Thema aus einem anderen Blickwinkel. Der jüdische Neurowissenschaftler aus Wien wollte genau verstehen, wie das menschliche Gedächtnis funktioniert, wie sein eigenes Gedächtnis Erinnerungen an das nationalsozialistische Wien der 1930er Jahre speicherte. Und Kandel fragte sich, warum wir manche Dinge vergessen und uns plötzlich an andere erinnern, von denen wir dachten, wir hätten sie vergessen.

Generell ist zunächst zu fragen, wie die Prozesse des Erinnerns und Vergessens erzählt werden können und wie sie überhaupt dargestellt werden. In der griechischen Mythologie zum Beispiel wird das Vergessen als dynamischer Prozess durch den unterirdischen Fluss Lethe visualisiert. Der Romanautor und Germanist Harald Weinrich erklärt in seinem Buch Lethe: „Die Wasser des Lethe-Stroms haben also das Vermögen, den Verstorbenen nach ihrem Übertritt in das Reich des Todes die Erinnerung an das Erdenleben zu nehmen“ (Weinrich 2005, 44). Die so ausgedrückte Fließfähigkeit des Vergessens verdeutlicht auch seine Wandelbarkeit, seine Unbeständigkeit. Auch die deutschen Psychologen Monika Pritzel und Hans Markowitsch beschreiben die Idee des Vergessens als die des ewigen Flusses als Grundannahme des Seins: „Die menschlichen Grundbedingungen des Seins, so Heraklit, ließen sich am ehesten begreifen, indem dieses Sein als eine Art Fluss aufgefasst würde, ein Fluss, dessen Charakteristikum nicht das einzelne Wasserteilchen, sondern das Fließen, also der beständige Wandel des Ganzen, sei“ (Pritzel – Markowitsch 2017, 12. Hervorh. im Original). Auch anhand der obigen Beispiele lässt sich erkennen, dass hier die Grenzen zwischen mindestens zwei Diskursen überschritten werden, nämlich zwischen Literatur und Neurobiologie bzw. Biomedizin (und verwandten Disziplinen im Bereich der Gedächtnisforschung). Bei diesen Fachdiskursen handelt es sich um unterschiedliche Positionen und damit um unterschiedliche Ausdrucksweisen.

Ziel dieses Themenhefts ist es daher, zu untersuchen, wie die Literatur zur Vermittlung von Fragen im Zusammenhang mit dem menschlichen Gedächtnis beitragen kann, und dabei auch die Möglichkeiten zu berücksichtigen, die das literarische System bei der Darstellung der neurobiologischen und kulturellen Prozesse des Erinnerns und Vergessens bieten kann.

 

Wichtige Termine und Hinweise:

Einreichung der Abstracts: 30. Juni 2025

Bitte senden Sie Ihre Abstracts im Umfang von max. 1 Seite per E-Mail an folgende Adressen: silvia.rybarova@savba.sk; roman.mikulas@savba.sk; mikulasova@fedu.uniba.sk

Annahme der Abstracts: 5. Juli 2025

Einreichung der Beiträge: 2. September 2025

Begutachtung der Beiträge: bis 30. September 2025

Einreichung der Ausgabe zum Druck: 4. November 2025

Erscheinungstermin der Ausgabe: 15. Dezember 2025

 

Literatur:

Asholt, Wolfgang – Ottmar Ette, Eds. 2010. Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen: Narr Verlag.

Assmann, Aleida – Dietrich Harth, eds.1993. Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt am Main: Fischer.

Erll, Astrid – Ansgar Nünning – Hanne Birk – Birgit Neumann, eds. 2005. Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin, New York: De Gruyter.

Gefen, Alexandre. 2023. „Faire face à Alzheimer: pathologies mémorielles et thérapie narrative dans la littérature française contemporaine.“ In Amnesie d’autore. Un secolo di parole e immagini per raccontare i disturbi della memoria, eds. Roberto Mario Danese, Margareth Amatulli, Riccardo Donati. Dostupné na https://hal.science/hal-04326359/document

Kehl, Christoph. 2012. Zwischen Geist und Gehirn. Das Gedächtnis als Objekt der Lebenswissenschaften. Bielefeld: transcript.

Peretti, Pascale. 2016. „Mémoire et fiction: apports de la littérature à l’approche psychothérapique des troubles démentiels.“ In Psychothérapies, 3, 187 – 194. Dostupné na https://shs.cairn.info/revue-psychotherapies-2016-3-page-187?lang=fr&tab=texte-integral 

Pethes, Nicolas – Jens Ruchatz, eds. 2001. Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek: Rowohlt.

Pritzel, Monika – Hans J. Markowitsch. 2017. Warum wir vergessen. Psychologische, natur- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse. Berlin: Springer.

Vedder, Ulrike. 2012. „Erzählen vom Zerfall. Demenz und Alzheimer in der Gegenwartsliteratur.“ Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 22, H. 2: 274–289.

Vendeuvre, Isabelle. 2022. Le récit de la maladie d’Alzheimer dans la littérature contemporaine. Paris: Connaissances & Savoirs.

Viart, Dominique. 2023. „Gammes de mémoire“, Carnets [online], 26, 28. november. Dostupné na http://journals.openedition.org/carnets/14829,  DOI : https://doi.org/10.4000/carnets.14829 .

Weinrich, Harald. 2005. Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München: C. H. Beck.

Welzer, Harald – Hans Markowitsch. 2005. „Towards a bio-psycho-social model of autobiographical memory.“ Memory 13: 63–78.

Welzer, Harald. 2002. Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München: C. H. Beck.

 

[1] Beispiele hierfür sind Titel aus dem deutschen Sprachraum: Martin Suter: Small World; Die dunkle Seite des Mondes; Ein perfekter Freund; Wolfgang Herrndorf: Sand; Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän; Katharina Hagena: Der Geschmack von Apfelkernen; Katharina Hacker: Die Erdbeeren von Antons Mutter, Urs Zürcher: Alberts Verlust etc.

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Mgr. Roman Mikuláš, PhD.
is a senior scholar at the Institute of World World Literature of the Slovak Academy of Sciences in Bratislava, where he is head of the of the Department of Literary Theory. In his academic research activities he devotes himself literary theory and currently questions of the interdiscursivity of literature and metaphor research. In all perspectives, the focus of his on clarifying the connection between consciousness and communication.

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Roman.Mikulas@savba.sk

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Forschungsgebiete

Literatur und Psychoanalyse/Psychologie, Literatur und Kulturwissenschaften/Cultural Studies, Literatur und Philosophie, Literatur und Anthropologie/Ethnologie, Literatur und Naturwissenschaften

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ISSN: 1820-5682

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Datum der Veröffentlichung: 25.04.2025
Letzte Änderung: 25.04.2025