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Anhaltender Verzehr. Zur Sprache der Klage

Die Klage gehört zu den ältesten poetischen Formen und ist in der Alltagssprache omnipräsent, wirft aber ein grundlegendes hermeneutisches Problem auf: Klagelauten ist keine Ursache des verlautbarten Schmerzes zu entnehmen, artikulierte Klagen sprechen oft in Formeln oder rituellen Texten, die Sprach- und Fassungslosen Worte leihen, und darum nicht als Aussagen zu verstehen sind. Klagen zeugen von Erfahrungen der Überwältigung, die sich nicht benennen lassen, sondern ihrerseits konventionelle Sprachstrukturen überwältigen. Diese Desorganisation ist gleichwohl nicht sinnlos: Eine Klage stellt das Beklagte dar, um es als ein Verlorenes oder Vergangenes zu zeigen, oder als Schmerzen Erregendes, das vergehen sollte. Die Sprache der Klage formuliert sich im Widerspruch: als dauerhaft lesbare Artikulation des Vergehens, als anhaltender Verzehr. Emotions- und Affekttheorien betrachten statt Klagen die symbolische Verfassung bestimmter Empfindungen, während Theorien von Trauer und Trauma die symbolische Struktur dieser Erfahrungen analysieren, kaum aber die Sprache der Klage. Die Betrachtungsweisen der Sprache in den Begriffen der Philosophie sind ungeeignet, die Schwierigkeit der Klage zu erfassen, denn sie verstehen die Sprache mit Aristoteles als Aussagesatz, der in Prädikationen wahre oder falsche Urteile formuliert. Das modernere Paradigma der Performativität, das die Sprache als Umsetzung von Intentionen versteht, ist geeignet, eine wichtige Frage aufzuwerfen: Was wollen Klagen? Klage wollen angehört werden. Sie betonen, was die meisten Sprachtheorien ignorieren und in Rhetorik verweisen: Die Rede ist stets nicht nur von einem und über etwas, sondern auch an einen gerichtet. Das, was Grund zur Klage gibt (Schmerzen, Katastrophen, Hiobsbotschaften, Neurosen, Einsamkeit oder der Tod), zieht jedoch die Möglichkeit in Zweifel, Gehör zu finden und Antwort zu bekommen. Anders als Fragen oder Bitten geben Klagen nicht vor, auf welche Art der Erwiderung sie aus sind. Darum sind Jeremiaden und gegenwärtige Empörungsaufrufe dem Anwurf ausgesetzt, ziel- oder sinnlos zu sein. Die Schwierigkeit liegt darin, dass Klagen Sinn formulieren, indem sie konventionelle Sprachstrukturen zersetzen. Daher erscheint die Sprache der Klage theologischen, philosophischen, psychologischen und philologischen Studien als Quelle von Beunruhigung. Die vergleichende Lektüre solcher sowie literarischer, anthropologischer und psychoanalytischer Texte verschiedener Sprachen und Epochen ermöglicht eine systematische Untersuchung des Klagens als einer Grundform der menschlichen Rede, der es um das Gehört-Werden-Können zu tun ist. Um Gehör zu finden, suchen Klagen den Abstand zu anderen zu tilgen: einen Abstand, der für theoretische Betrachtungen jedoch unabdingbar ist. Die Studie ist von Belang nicht allein für die Literatur- und Kulturwissenschaften, weil sie das Klagen als sprachliche Struktur aufweist, die sich der Hegemonie der Theorie widersetzt.
Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literaturtheorie, Hermeneutik, Literatur und Theologie/Religionswissenschaften, Literatur und Anthropologie/Ethnologie, Poetik, Elegie, Tragödie, Trauerspiel

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Einrichtungen

Goethe-Universität Frankfurt am Main
Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Datum der Veröffentlichung: 12.12.2018
Letzte Änderung: 12.12.2018