Sich mit den vergangenen vier Jahrzehnten der chinesischen Geschichte zu befassen bedeutet, sich mit der chinesischen Postmoderne auseinanderzusetzen und damit mit der Gesamtheit der 'Posts', die auf Mao Zedong (1893–1976) folgten: Post-Revolution, Post-Sozialismus, Post-Mao, Post-Utopie. Bedenkt man, dass die Erfahrung des Maoismus als die Erfahrung der chinesischen Moderne in die chinesische Geschichtsschreibung eingegangen ist, dann kann die Zeit nach Mao als direkter Übergang in die Phase der Postmoderne betrachtet werden. Tatsächlich bedeutet dies auch einen tiefgreifenden kulturellen Wandel. Die chinesische Postmoderne markiert eine plötzliche und beispiellose Wende in der chinesischen Geschichte, einen Umbruch, eine Umgestaltung des modernen China, das wesentlich auf Asketismus und Egalitarismus basiert. So hat das Aufeinandertreffen von globalem Kapitalismus, Popkultur und chinesischem Kontext eine Art kulturellen Hybrid erzeugt. Postmoderne bedeutet in China die letzte Kulturrevolution, das Zeitalter der digitalen und der grünen Wirtschaft, der Neuen Seidenstraße, der nationalen Verjüngung, des Kampfes gegen die Korruption. Aber das Versprechen der Moderne hat die Grenzen der ideologischen Vergangenheit und der sozialistischen Gegenwart überschritten. Gegenwärtig wird nach einer neuen Identitätsdefinition einer Bevölkerung gesucht, die modern und traditionell, konservativ und liberal sein soll, die sich ändern soll, aber auch nicht all zu sehr. Mein Eindruck ist, dass die heutige Avantgarde-Ästhetik einen pessimistischen Blick auf die triumphierenden Visionen der offiziellen Mainstream-Produktion wirft, und darum bemüht ist, der Unzulänglichkeit der chinesischen Gegenwart Ausdruck zu verleihen, und zwar durch die offene Abkehr von rationalen Mitteln und linearem Denken. [...] Am meisten interessiert mich der letzte Trend der experimentellen Phase. Entstanden nach den Ereignissen auf dem Platz des himmlischen Friedens (1989), in einer Mischung von politischer Desillusionierung und kommerziellem Markt, ist dieser Trend abstrakter und konzeptueller als vorherige Versuche und hat ästhetische Implikationen, die sehr an die durch Camus theoretisierte absurdistische Philosophie erinnern. Diese künstlerische Entwicklung ist dabei inhärent chinesisch und offensichtlich postmodern, die neue Gesellschaftsstruktur wird als ein Szenario der Nachahmung, Verdopplung, vielleicht sogar als Maskerade skizziert; zugleich ist die fehlende Tiefe der Postmoderne hier durch eine absurdistische Struktur bereichert, die die Diskussion um die chinesische Avantgarde-Kunst mit soziologischer Bedeutung anreichert. In aller Kürze sei zunächst auf die moderne Entwicklung der Philosophie des Absurdismus im Westen zurückgeblickt, danach sollen der chinesische Kontext und die entsprechenden Experimente der Avantgarde-Kunst im Zentrum stehen. Seit der bahnbrechenden China/Avantgarde-Ausstellung 1989 in Peking wurde eine beeindruckende Fülle wissenschaftlicher Arbeiten produziert. Zahllose kritische Rezensionen, akademische Artikel und Texte sind geschrieben worden, die die Reaktion der Kunst auf das geheime Einverständnis zwischen chinesischer Postmoderne und globalem Kapitalismus beschreiben, welches zugleich mit einer Steigerung der Lebensstandards, aber auch mit gesellschaftlichen Probleme einhergeht, die der Ära Maos und ihrer Version des Sozialismus fremd waren. Die nächsten Seiten sollen allerdings nicht einfach diese vertrauten und gesicherten akademischen Erkenntnisse wiederholen, sondern verstehen sich vielmehr als Versuch, die chinesische Avantgarde-Kunst als einen Ausdruck der durch den Existentialismus theoretisierten absurdistischen Philosophie zu verstehen.
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