Die im Medium des Ästhetischen dargestellte Biodiversität verhält sich, kulturgeschichtlich betrachtet, wohl nicht immer proportional zum Verlust der Arten in der empirischen Wirklichkeit. Jedenfalls lassen sich im 20. und 21. Jahrhundert durchaus deutliche gegenläufige Tendenzen erkennen: Nicht nur die in der empirischen Lebenswelt der Autorinnen und Autoren vorhandenen Tierarten finden Eingang in die literarischen bzw. fiktionalen Texte, sondern es werden in ihnen vermehrt - und zwar mit wachsendem Grad an Differenziertheit und selbstkritischem Bewusstsein - auch die ausgestorbenen Spezies erinnert. Die künstlerische Imagination verbindet sich in diesen Fällen häufig mit einer reflexiv-kritischen Form der Erinnerung und nimmt sich insbesondere der Aufgabe einer genauen Aufarbeitung jener Ursachen für das Aussterben an. Dabei geht es nicht zuletzt darum, die oftmals destruktive Rolle des Menschen im Umgang mit der Natur zu analysieren und die Mensch-Tier-Beziehung zu beleuchten. Indem die Schriftsteller/innen einen kollektiven Prozess des Gedenkens an die unwiederbringlich verlorenen Arten stimulieren, fordern sie zugleich, sei es implizit oder explizit, eine rücksichtsvolle und reflektierte Form des Umgangs mit der Natur, ihrer Artenvielfalt und ihrer ökologischen Balance. In diesem Sinne inspirieren die den ausgestorbenen Spezies gewidmeten Fiktionen eine "reflective nostalgia" im Sinne Svetlana Boyms. Boym akzentuiert das kritische Potenzial einer reflexiven Nostalgie, die sich auf dem Gegenpol zu einer idealisierenden, restaurativen Spielart bewege, da erstere geeignet sei, eine distanzierte sowie selbstkritische Wahrnehmungsfähigkeit zu ermöglichen und einer fragmentierten Wirklichkeit Rechnung zu tragen. [...] Weit davon entfernt, ein ästhetisches, psychologisches oder gesellschaftliches Harmoniebedürfnis zu bedienen, erweist sich ein derartiges Verfahren als widerständig und vielfach in sich gebrochen, insofern es den Rezipienten die ersehnte Ganzheit vorenthält oder diese als illusionäres Sehnsuchtsbild entlarvt. Wie sich dies in den gewählten poetischen Texten und ihren Darstellungstechniken im Einzelnen äußert, soll im Folgenden anhand eines interessanten Fallbeispiels näher untersucht werden, der literarischen Gestaltungsformen des Riesenalks, - einer bereits im 19. Jahrhundert ausgestorbenen Vogelspezies, die in der Folgezeit ein erstaunliches Comeback und Nachleben im Medium literarischer Fiktionen erfahren hat. Im Folgenden geht es darum, exemplarisch nachzuvollziehen, auf welche unterschiedlichen Darstellungsoptionen Künstler und Schriftsteller zurückgreifen, um das Artensterben zu reflektieren und literarisch zu gestalten.
|