Provenienz erzählen. Herkunft, Translokation und Restitution als Themen der Gegenwartsliteratur.
Ausgehend von den der Washingtoner Erklärung von 1998 vorausgegangenen globalen Provenienzdebatten widmet sich die Dissertation der Frage, wie literarische Texte seit den 1990er Jahren das Phänomen Provenienz und die damit verbundenen Debatten um die Translokation, Aneignung und Restitution von Objekten erzählen und reflektieren.
Der Entzug jüdischen Eigentums während der NS-Zeit und die in den Nachkriegsjahren erfolgten Debatten um „Wiedergutmachung“ und Restitution stellen einen wichtiges Themenfeld der Rezeptionsgeschichte der NS-Zeit dar, anhand dessen die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus insgesamt erhellt werden kann. Zeitgleich mit der Erforschung durch die Zeitgeschichte ab den 1990er Jahren ist eine literarische Rezeption der Thematik zu beobachten. Während diese zunächst wie im Fall von Anna Mitgutsch Haus der Kindheit (München 2000) oder Edmund de Waals The Hare with Amber Eyes (London 2010) der „ernsten“ Erinnerungsliteratur vorbehalten war, ist in den letzten Jahren eine Konjunktur des Themas, insbesondere zur NS-Raubkunst, in „leichten“ Genres wie der Kriminallite-ratur oder als „Frauenliteratur“ gelabelten Liebesromanen zu beobachten, so etwa in Jojo Moyes‘ The Girl You Left Behind (London 2012), Laura Morellis The Night Portrait (New York 2020) oder Alena Schröders Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid (München 2021). Unterstützt durch die Verbreitung postkolonialer Positionen wurde in den letzten Jahren auch die Provenienz von Objekten, die von ehemaligen Kolonialmächten aus Afrika nach Europa gebracht wurden, in den Blick genommen und die Debatte um koloniales Raubgut literarisch rezipiert. Der Erfolg aktueller Neuerscheinungen zur Translokation archäologischer Objekte im Zeitalter des Kolonialismus wie Kenah Cusanits Roman Babel (München 2019) oder zu Exponaten kolonialer Provenienz in westlichen Sammlungen wie Grace D. Lis Portrait of a Thief (New York 2022) und Tania James‘ Loot (New York 2023) deutet eine Konjunktur der Thematik an, die die nächsten Jahre überdauern dürfte.
Losgelöst von deren literarischer Qualität untersucht die Arbeit wie Erinnerungsprozesse literarisch mit Provenienznarrativen verknüpft und welche Geschichtsbilder durch die Texte transportiert werden. Insbesondere wird herausgearbeitet, welche Veränderungen die literarische Darstellung von Provenienz und die symbolische Funktion der Objekte, deren Provenienzgeschichte erzählt wird, durchlaufen haben, seit sich der Diskurs über die Debatte um NS-Raubkunst hinaus auch auf koloniale Raubgüter ausgeweitet hat.