CfP/CfA Veranstaltungen

Visualität als Wirkungsdimension von Lyrik, Berlin

Beginn
25.01.2024
Ende
27.01.2024
Deadline Abstract
15.05.2023

Visualität als Wirkungsdimension von Lyrik

Interdisziplinäre Tagung

25. bis 27. Januar 2024

Berlin, Literarisches Colloquium Berlin

 

Veränderungen in der Buchproduktion und in der bürgerlichen Lesekompetenz führten um 1800 zu einer überwiegend lesenden statt hörenden Rezeption von Texten (Schneider 2015). Der Prozess des Lesens allgemein vollzieht sich nicht allein linear, sondern ebenso räumlich; im visuellen Abtasten wird die Oberfläche eines Körpers wahrgenommen und als Zeichenträger dekodiert (Groß 1994, 3). Die Räumlichkeit der Zeilenordnung führt zu einer versetzten Rücksetzbewegung und erlaubt eine hierarchische Strukturierung der Informationen (Spitzmüller 2013, 96). Bei Texten in Versform, die bekanntlich für die Gattung Lyrik als konstitutiv angesehen wird (Lamping 2000), ist das Zeilenende und damit die Spanne der Rücksetzbewegung definiert. Das Versende legt zugleich die räumliche Position aller anderen Textelemente auf der horizontalen wie auf der vertikalen Achse fest, so dass die räumlichen Interrelationen der Textelemente als motiviert angesehen werden können.

Anders als metrische, also prosodisch definierte Verse konstituieren sich Verse ohne ein festes Metrum, wie sie im Deutschen seit Friedrich Gottlieb Klopstocks freirhythmischer Dichtung vorliegen, allein durch ihre grafische Anordnung als Text (Albertsen 1997, 119f.). Diese kann prosodisch abgebildet werden. Wie für die prosodische (Jakobson 2007, 188) gilt für die grafische Struktur von Versen, dass formale Äquivalenzen bzw. Oppositionen entsprechende semantische Effekte generieren.  

Ausgehend von diesen Überlegungen beschäftigt sich die Tagung mit der (typo)grafischen Struktur von Lyrik und ihrer visuellen Wahrnehmung und Wirkung im Leseprozess seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart in verschiedenen europäischen Sprachen. Der Fokus liegt dabei nicht auf experimenteller Lyrik, sondern auf jenem Gros an lyrischen Texten, die in (zumindest rudimentärer) Versform angeordnet sind und (zumindest überwiegend) aus Wörtern aus dem Lexikon einer natürlichen Sprache bestehen. Es kann sich um Gedichte mit metrisch geregelten, freirythmischen oder prosanahen Versen handeln.

Im Unterschied zu anderen literarischen Gattungen wird Lyrik bis in die Gegenwart ungeachtet der faktischen Rezeption meist als auditiv adressierte Textsorte aufgefasst und hinsichtlich ihrer prosodischen, nicht aber hinsichtlich ihrer visuellen Struktur und Wirkungsweise analysiert. Dahinter steht die bis in die Gegenwart wirkende Auffassung von Schrift als bloßer Aufzeichnung mündlicher Sprache (Krämer 2014). Abgesehen von dezidiert visuell arbeitenden Texten (z.B. das barocke Figurengedicht oder Konkrete Poesie) werden Fragen etwa der Anordnungsgestalt, der Auszeichnung, der Graphemtypographie oder des Profils der vertikalen Textgrenzen und daraus folgenden visuellen Wahrnehmungs- und Verarbeitungseffekten im Leseprozess von Gedichten nur selten in die literaturwissenschaftliche Analyse und Interpretation von Gedichten einbezogen und noch seltener systematisch behandelt (vgl. Lorenz 1980; Müller 2021). Das 1995 von Dieter Burdorf (1995, 48) angezeigte Desiderat eines am Text ‚geschärften‘ Instrumentariums für die Analyse lyrischer Schriftlichkeit ist noch immer gültig (Hillebrandt, Klimek, Müller u.a. 2021, 13).

Nicht für Lyrik, sondern für Schrift allgemein wird in der Sprachwissenschaft seit einiger Zeit mit einem erweiterten Begriff von Typographie gearbeitet. Dies betrifft nicht nur Schriftart und Textauszeichnung, sondern auch die Anordnung der Schriftzeichen und gegebenenfalls Abbildungen, die grafische Strukturierung des Textes bis hin zur Einbandgestaltung. Die verschiedenen Ebenen und Phänomene werden in der Forschung unterschiedlich klassifiziert, etwa hinsichtlich ihrer sprachlichen Funktionalität (vier Kategorien, Stöckl 2004)  oder hinsichtlich ihrer Gestaltung (zwei Kategorien, Spitzmüller 2016). Im letztgenannten Fall werden Makrotypographie (Gesamtentwurf, Anordnung, Trägermaterial, Schriftarten, Satzspiegel, Schriftgröße und -abstände, Seitenumbruch) und Mikrotypographie (Anordnung der Schrift in der Zeile, Zusammenfügung von Buchstaben zu Wörtern, Auszeichnung, Laufweite, Zeilenfall und -abstand u.a.) unterschieden. Mit dem (weiten) Begriff Typographie weithin deckungsgleich ist der jüngst eingebrachte Begriff des Textdesigns, der stärker die Wirkungsabsicht der Typographie betont (Spitzmüller 2016, S. 218). Da viele Textsorten – etwa auch Lyrik – eine spezifische typographische Struktur aufweisen und da vor dem eigentlichen Lesen die Textfläche visuell abgetastet wird, beeinflusst die Typographie die Erwartungen an den Text. Es lassen sich verschiedene Funktionen der typographischen Gestaltung unterscheiden (vgl. Antos 2001): Von diesen sind für die Untersuchung der visuellen Dimension von Lyrik vor allem die ästhetische (Formwirkung) und die motivationelle Funktion (Aufmerksamkeitslenkung und -bindung des Lesers) wichtig; hinzu kann eine konnotative Funktion treten (Spitzmüller 2013, 228).

Die Frage nach der visuellen Wirkungsdimension von Lyrik verbindet literatur-, medien-, sprach- und kunstwissenschaftliche Aspekte mit Aspekten der Leseforschung und der Typo­gra­phie- und der Buchgeschichte. Die für die Tagung erbetenen Beiträge können einen oder mehrere dieser Aspekte als Ausgangspunkt für phänomenologische oder konzeptionelle Überlegungen oder für konkrete Textuntersuchungen wählen.

 

Mögliche Themen und Fragestellungen könnten sein:

- Welche (typo)grafisch-visuellen Phänomene lassen sich an konkreten Texten nicht-experimenteller Lyrik beobachten? Welche konnotativen und/oder ästhetisch-motivationellen Funktionen übernehmen sie?

- Welche kunstwissenschaftlichen, medienwissenschaftlichen oder wahrnehmungspsychologischen Kategorien lassen sich für eine visualitätsbezogene Beschreibung lyrischer Textgestalt fruchtbar machen?

- Wie lässt sich das Verhältnis von typographischer Konvention einerseits und gezielter typographischer Modellierung und Semantisierung andererseits wirkungsästhetisch bewerten?

- Lässt sich eine gezielte Modellierung der Textgestalt von Lyrik und ihrer visuellen Wahrnehmungsdimension historisch oder hinsichtlich bestimmter lyrischer Gattungen spezifizieren?

- Lassen sich Erkenntnisse zu den ästhetischen Verfahren der dezidiert visuellen Poesie in den europäischen Avantgarden v.a. des 20. Jahrhunderts für die Beschreibung grafischer und visueller Phänomene älterer bzw. nicht-experimenteller Gedichte adaptieren?

- Finden sich in Poetiken von Autorinnen und Autoren nicht-experimenteller Lyrik oder in entsprechenden poetologischen oder ästhetischen Abhandlungen Hinweise auf ein (wirkungsästhetisches) Visualitätsbewusstsein?

- Wie lässt sich mit der Varianz der (typo)grafischen Textgestalt in verschiedenen Drucken eines Gedichtes methodisch umgehen?

 

Die Tagung will das Spektrum an grafischen Gestaltungs- und Visualitätseffekten von Lyrik und die Möglichkeit ihrer Beschreibung und Analyse interdisziplinär diskutieren. Beiträge zur visuellen Poesie sollten die Anschlussfähigkeit für die Beschreibung von nicht-experimentellen Gedichten fokussieren.

Die Tagung findet von 25. bis 27. Januar 2024 in Berlin statt. Sie wird von apl. Prof. Dr. Andreas Degen (Universität Potsdam) in Kooperation mit Prof. Dr. Jeanette Fabian (Universität Bamberg) organisiert. Eine Publikation der diskutierten Beiträge ist geplant. Reise- und Übernachtungskosten können durch die Förderung der Tagung übernommen werden.

Bitte reichen Sie Ihre Vorschläge mit einer Erläuterung (ca. 250 Wörter) und einer kurzen wissenschaftlichen Vita bis 15. Mai 2023 ein: Andreas Degen: adegen@uni-potsdam.de

Bitte haben Sie Verständnis, dass gegebenenfalls nicht alle Vorschläge berücksichtigt werden können.

 

apl. Prof. Dr. Andreas Degen, Universität Potsdam, Institut für Germanistik, Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam 

Bibliographie

-Albertsen, Leif Ludwig: Neuere deutsche Metrik. 2., überarbeitete Auflage. Berlin 1997.

-Antos, Gerd: Sprachdesign als Stil? Lifting oder: Sie werden die Welt mit anderen Augen sehen, in: Jakobs, Eva-Maria/ Rothkegel, Annely (Hg.): Perspektiven auf Stil. Tübingen 2001, S. 55–76.

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- Hillebrandt, Claudia/ Klimek, Sonja/ Müller, Ralph u.a. (Hg.): Grundfragen der Lyrikologie, Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysedimensionen. Berlin, Boston 2021.

-Jong, Stephanie und Ralf de: Schriftwechsel. Schrift sehen, verstehen, wählen und vermitteln. Mainz 2008.

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-Kittler, Friedrich: Aufschreibsysteme 1800/1900. München 1985.

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-Strätling, Susanne/ Witte, Georg (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift. München 2006.

-Trilcke, Peer: Prosigraphische Verse. Überlegungen zu einem dezidiert graphischen Verstyp am Beispiel von Gedichten Thomas Klings, in: Hillebrandt, Claudia/ Klimek Sonja/ Müller, Ralph u.a. (Hg.): Grundfragen der Lyrikologie, Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysedimensionen. Berlin, Boston 2021, S. 377–402.

-Wehde, Susanne: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000.

-Witte, Georg: Das „Zusammen-Begreifen“ des Blicks: Vers und Schrift, in: Krämer, Sybille/ Cancik-Kirschbaum, Eva/ Totzke, Rainer (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin 2012, S. 265–285.

-Zymner, Rüdiger. Begriff der Lyrikologie. Einige Vorschläge, in: Hillebrandt, Claudia; Klimek, Sonja; Müller, Ralph u.a. (Hg.): Grundfragen der Lyrikologie, Bd. 1. Lyrisches Ich, Textsubjekt, Sprecher? Berlin und Boston 2019, S. 25–50.

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literatur aus Deutschland/Österreich/Schweiz, Literatur und andere Künste, Literatur und Psychoanalyse/Psychologie, Literatur und Visual Studies/Bildwissenschaften, Literatur und Medienwissenschaften, Lyrik allgemein, Ästhetik, Literatur des 18. Jahrhunderts, Literatur des 19. Jahrhunderts, Literatur des 20. Jahrhunderts, Literatur des 21. Jahrhunderts

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Datum der Veröffentlichung: 28.03.2023
Letzte Änderung: 28.03.2023