Schicksalhafte Effekte von Grenzziehungen - Literatur und Geographie
Schicksalhafte Effekte von Grenzziehungen: Literatur und Geographie
20. und 21. März 2025 Université de Lorraine – Metz
Im Jahr 2010 singt Régis Debray ein Loblied auf die Grenzen.[1] Gegen die Apostrophierung „sans frontières“ plädiert er dafür, die „verschrienene Idee der Ränder und Umgrenzungen zu untersstützen“ « [de] soutenir l’idée décrite des lisières et confins ».[2] Die Grenze wird so als eine für jede Gesellschaft notwendige Begrenzung in einer Logik der Organisation und Verwaltung zwischen Inklusion und Exklusion dargestellt (Strüver, 2005[3]; Fourcher, 2016[4], Gerst, Klessmann und Krämer, 2021[5]). Diese Logik bringt die Frage auf, was eine (geographische) Grenze bestimmt. Welche Diskurselemente bestimmen Grenzen bzw. stellen sie in Frage? Inwieweit beanspruchen Individuen, soziale Gruppen, Kulturen, Nationen oder gar supranationale Institutionen ein Schicksal, das durch die Grenzziehung herbeigeführt wird?
Die Legende von Hero und Leander und ihrer verbotenen Liebe, die durch die geographische Entfernung zwischen ihnen getrennt sind, ist eine erste Illustration dafür. Während die Symbolik des Wassers unter dem Prisma der Romantik und der Künste insgesamt oft mit der Symbolik der „natürlichen“ und „emotionalen“ Grenze gleichgesetzt wurde (Febvre, 1922[6], 1930[7]), findet sie in der Volkskultur des deutschsprachigen Raums einen besonderen Platz und wurde durch das Volkslied Es waren zwei Königskinder populär. Wie in der griechischen Sage spielt das Wasser eine ultimative Trennungsrolle, die im Zentrum der der tragischen Schicksale der Protagonisten steht. Die geographische Distanz, die durch das Wasser als trennendes Element bestimmt wird, überschneidet sich mit der Erzählung einer bedingungslosen Liebe, die trotz geographischer und sozialer Barrieren und Umstände nach Erfüllung strebt.
Diese Aspekte haben in der Geographie zu Forschungsarbeiten geführt, die den Raum mit den Umständen verbinden, die durch die Beziehung des Menschen zur Welt hervorgerufen werden. Sie stehen im Mittelpunkt der von Henri Lefebvre[8] und Armand Frémont[9] entwickelten Konzepte des gelebten, wahrgenommenen oder konzipierten Raums und werden in den Arbeiten des japanischen Geographen Yi-Fu Tuan (1977)[10] in einer die Sinne mitbedenkenden Perspektive aufgegriffen, in denen sich individuelle Wahrnehmungen und Vorstellungen auf das Verständnis des Raums niederschlagen.
Die Überschneidung zwischen den geographischen Umständen, die die Unmöglichkeit der Fortbewegung ausmacht, und dem menschlichen Willen, sich zu vereinen, die dieses Erzählmuster so produktiv gemacht hat, dass es im Laufe der Literaturgeschichte immer wieder rezipiert, adaptiert, modifiziert und rekontextualisiert wurde, lässt uns fragen: Wie beeinflussen Fiktionen die Wahrnehmung von Grenzen? Wie bestimmen Grenzen im Gegenzug kulturelle, rechtliche oder auch literarische Landschaften (Guldall 2015[11])? Wie tragen die zeitgenössischen Veränderungen in einer globalisierten Welt zur Transformation physischer und symbolischer Grenzen bei (Amilhat-Szary und Giraut 2015[12])?
Blaise Pascal schrieb in seinen Pensées, wobei er Montaigne zitierte und abänderte: „Plaisante justice qu‘une rivière borne. Vérité au-deçà des Pyrénées, erreur au-delà.“[13]Er nähert geographische Gegebenheiten und Rechtssysteme – auf den ersten Blick skandalös – einander an. Diese Verbindung wirkt wie ein Hysteron-Proteron. Aber diese Umkehrung der Rechtfertigungslogik kann auch als Ausgangspunkt für eine geographische Lesart der schicksalhaften Brüche dienen. In dem Moment, in dem nationale Grenzen auf Dauer festgeschrieben sind, nimmt die Organisation der Räume auf beiden Seiten unterschiedliche Richtungen, wie unter dem Einfluss von sich trennenden Schicksalslinien; und selbst wenn diese Grenzen verschwinden, bleibt der Schicksalsbruch offenkundig, wie im Fall der Phantomgrenzen gezeigt werden konnte (von Hirschhausen, 2023[14]).
Die Errichtung oder auch nur der Fortbestand von Grenzen kann als Kontingenz aber auch als Notwendigkeit betrachtet werden, da sie das Ergebnis einer bereits bestehenden territorialen Organisation, eines politischen Kräfteverhältnisses und einer ideellen Projektion dessen ist, was die Grenzen des Staates sein sollen - der Mythos der „natürlichen Grenzen“ ist in dieser Hinsicht interessant, als ob ein Element der Natur durch Schicksal zur Grenze werden könnte. Abgesehen davon hat die Grenzziehung weitreichende Folgen für das Schicksal der Menschen und Räume, die sie trennt, da sie die Errichtung von sich tendenziell abschottenden gesellschaftlichen und ideellen Organisationen impliziert.
Daran schließt sich unmittelbar die Frage nach der Darstellung von Grenzen an (Van Houtum, 2012[15]). Wie lassen sich Grenzen und geographische Räume unter diesem Blickwinkel kartografieren? Wie kartographiert man die Einheit oder die Andersartigkeit oder gar die Heimsuchung des einen durch das andere? Diese Fragen führen zu den Problemen der tatsächlichen Produktion kartografischer Darstellungen und ihrer Träger sowie zu den Darstellungsmodellen, die Bilder von Räumen schaffen. Denn diese modellierten Bilder haben natürlich eine Rückwirkung auf den Gegenstand. Gerade die Großregion (Saarland, Lothringen, Luxemburg, Rheinland-Pfalz und Wallonien) und die deutsch-französische Geschichte dieses geographischen Raums können einen exemplarischen Forschungsgegenstand darstellen (Hamez und Defays, 2020[16]).
Wir laden Forscherinnen und Forscher ein, aus den Perspektiven der Geographie, der Literaturwissenschaft, der Kulturwissenschaft und der Geschichtswissenschaft zu Überlegungen über die schicksalhaften Auswirkungen von Grenzziehungen beizutragen.
Die Tagung wird dreisprachig englisch - französisch - deutsch stattfinden. Beiträge können in diesen drei Sprachen verfasst werden. Für die englische und französische Version siehe: https://cegil.univ-lorraine.fr/content/aac-colloque-litteratures-et-geographie
Wir bitten um die Einreichung von Vorschlägen (Abstracts von max. 300 Wörtern und Kurzbiographie von max. 200 Wörtern) bis zum 5. Januar 2025 per E-Mail an frederique.morel-doridat@univ-lorraine.fr et daniel.kazmaier@univ-lorraine.fr.
Organisation
Grégory HAMEZ (Université de Lorraine, LOTERR)
Daniel KAZMAIER (Université de Lorraine, CEGIL)
Frédérique MOREL-DORIDAT (Université de Lorraine, LOTERR)
Wissenschaftlicher Beirat
Olivier AGARD (Sorbonne Université)
Till DEMBECK (Université de Luxembourg)
Achim GEISENHANLÜKE (Université de Francfort sur le Main)
Grégory HAMEZ (Université de Lorraine, LOTERR)
Daniel KAZMAIER (Université de Lorraine, CEGIL)
Anne LAGNY (ENS Lyon)
Françoise LARTILLOT (Université de Lorraine, CEGIL)
Frédérique MOREL-DORIDAT (Université de Lorraine, LOTERR)
[1] Régis Debray : Éloge des frontières. Paris : Gallimard 2010.
[2] Régis Debray : Éloge des frontières. Paris : Gallimard 2010, p. 14.
[3] Anke Strüver : Binnen- und Außengrenzen der EU: Zwischen Abgrenzung und Überschreitung. In: Reuber, Paul/Strüver, Anke/Wolkersdorfer, Günter (Hrsg.): Politische Geographien Europas – Annäherungen an ein umstrittenes Konstrukt. Münster: Lit 2005, pp. 141–152.
[4] Michel Foucher : L’Obsession des frontières. Paris : Tempus Perrin 2016.
[5] Dominik Gerst (Ed.), Maria Klessmann (Ed.) et Hannes Krämer (Ed.) : Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium. Baden-Baden : Nomos 2021.
[6] Lucien Febvre : La terre et l'évolution humaine : introduction géographique à l'histoire. Paris : La Renaissance du Livre 1922.
[7] Lucien Febvre : « Frontière : le mot et la notion », Bulletin du Centre international de synthèse, XLV, juin 1928, p. 31-44.
[8] Henri Lefebvre : La production de l’espace. Paris : Anthropos. 1974.
[9] Armand Frémont : La Région, espace vécu. Paris : Flammarion 1976.
[10] Yi-Fu Tuan : Space and Place: The Perspective of Experience. Minnesota : University of Minnesota Press, 248 p.
[11] Jesper Gulddal: The novel and the passport. Towards a literary history of movement control. In: Comparative literature 67-2, (2015), pp. 131-144.
[12] Anne-Laure Amilhat-Szary et Frédéric Giraut. Introduction. In: Borderities and the Politics of Contemporary Mobile Borders, Amilhat-Szary et Giraut (éd.). Londres : Palgrave Macmillan 2015.
[13] Blaise Pascal : Pensées, opuscules et lettres. Édition de Philippe Sellier. Paris : Classiques Garnier 2011, Fr. 94.
[14] Béatrice von Hirschhausen: Les Provinces du temps. Frontières fantômes et expériences de l'histoire. Paris : CENRS éditions 2023.
[15] Henk Van Houtum: Remapping Borders. In : A companion to Border Studies, Donnan, H.; Wilson, T. (ed.). Hoboken : Blackwell Publishing Ltd 2012. pp. 405-418.
[16] Grégory Hamez et Jean-Marc Defays : Réalités, perceptions et représentations des frontières – L’espace transfrontalier de la grande région Sarre-Lor-Lux. Ottignies-Louvain-la-Neuve : EME Editions, Proximités Sociologie 2020.
URL
https://cegil.univ-lorraine.fr/content/aac-colloque-litteratures-et-geographie