Panel: Der (para-)dialogische Modus und die Literaturen der Gegenwart (28. Deutscher Germanistentag, Braunschweig)
Panel | 28. Deutscher Germanistentag | 14.–17. September 2025 | TU Braunschweig | Thema: „Dialog“ | Sektion: Themenbereich 2: Formen und Prozess von Dialog
Spätestens mit dem Aufkommen von Influencer:innen lässt sich eine beträchtliche Konjunktur an partizipativen Kommunikationsstilen beobachten. Wesentlich darauf angelegt, das Engagement auf den Plattformen und das Attachment der Follower:innen zu steigern, geben diese Rhetoriken meistens nur vor, dialogisch zu sein: Sie suggerieren heterarchischen Austausch, Nahbarkeit, wechselseitige Anerkennung und Wertschätzung, wo sie eigentlich auf das Affektkalkül einer parasozialen Beziehung zielen, welche den Dialog als kommunikativen Modus ausbeutet. Die Antworten auf aktivierende Fragen der Influencer:innen verbleiben eigentümlich resonanzlos auf der Seite der Fragenden, und geben ein anschauliches Zeugnis vom Willen zur Teilhabe auf der Seite der Respondierenden. Auch in den Literaturen der Gegenwart lassen sich verstärkt solche paradialogischen Formen ausmachen: Ich-Erzähler:innen wenden sich an ein Du, das zwar Teil der erzählten Welt ist, aber als adressiert:e Akteur:in absent ist oder bleibt. Im intimen, fingierten Dialog mit dem Du werden die Lesenden Zeug:innen eines Geständnisses, einer mentalen Analyse oder einer Selbstoffenbarung etc. So richtet sich zum Beispiel in Kim de L’Horizons Blutbuch (2023) der Dialog an die Großmutter, die an Alzheimer erkrankt ist und schließlich stirbt. Die Lesenden werden stellvertretend zu Adressat:innen einer Offenbarung, die die Großmutter nicht mehr erreichen soll. In Samuel Hamens ökologischem Detektivroman Wie die Fliegen (2024) übernehmen dialogische Passagen die Funktion einer kritischen Selbstbefragung. Nur in der Rekonstruktion früherer Ereignisse, bzw. in der Rekapitulation von Erinnerungen taucht das Du als Akteur:in auf, immer gerahmt durch die subjektive Wahrnehmung und dialogische Befragung des Ich-Erzählers. Marius Goldhorns Park (2020) integriert einen Chatverlauf in seinen postromantischen Roman, und lässt die Tragik der Liebeskommunikation sich selbst offenbaren. Minutiös werden die Reaktionszeiten des Du aufgeführt. Durch die Frequenz der Antworten können die Lesenden auf eine recht einseitige Liebesbeziehung schließen. Die im paradialogischen Modus angerufenen Anderen glänzen sämtlich durch Absenz und Entzug, und doch kreisen die Texte notorisch um ihre Abwesenheit: typografisch abgesetzte Briefe von vermeintlich extradiegetischen Absender:innen, eingelassene Chats, E-Mails, oder Randnotizen an die beste Freundin (etwa bei Leif Randt oder Lisa Krusche) simulieren in der dialogischen Form Inklusion, Nähe und Authentizität sowie Echtzeit und Unvermitteltheit. Sie vernähen die Lesenden mit der klaffenden Wunde, die der Entzug des Dus hinterlässt. Vielleicht dokumentier die Konjunktur an paradialogischen Formen sogar einen ganz besonderen Verlust der Literatur: Die Leser:in, die noch ohne ein persönliches Angesprochensein bzw. eine Pseudoidentifikation bereit war, sich auf das ästhetische Spiel der Literatur einzulassen? Zu überlegen wäre weiterhin, ob der paradialogische Modus die Leser:innen notwendig zu Kompliz:innen macht, indem sie an die Stelle der absenten Adressat:innen treten. Auch eine vergleichende Perspektive auf die ästhetischen und funktionalen Differenzen von szenischen Dialogsequenzen, wie sie etwa im aktuellen Roman Die Frau mit den vier Armen (2024) von Jakob Nolte eingesetzt werden, könnte produktiv sein. Denn anders als der paradialogische Modus ist der dialogische Modus im szenischen Dialog nicht auf eine Naht (suture) aus, er belässt die Leser:in absichtlich im Außen, als Beobachter:in zweiter Ordnung.
- Formen und Funktionen des (Para-)Dialogischen: z.B. im Hinblick auf eine Reflexion des entworfenen Leser:innen-Dispositivs, auch im (historischen) Vergleich
- Theorien des (Para-)Dialogischen: z.B. im Hinblick auf Differenzen und Überschneidungen zwischen Paradialogischen, Dialogizität und Komplizenschaft bzw. Partizipation
- Medien des (Para-)Dialogischen: z.B. im Hinblick auf Relationen zu anderen Medien (K.I., Plattformen, Chat, Forum, Podcast, Vodcast, Radio, Fernsehen)
Abstracts (max. 400 Wörter, inkl. Titel + zusätzl. Biobib) zur Teilnahme mit einem Vortrag (ca. 15-20min) können bis zum 15. September 2024 eingereicht werden: tanja.prokic@lmu.de
Die angenommenen Paper sollten (in Rohfassung) bis Anfang September 2025 vorliegen, sie dienen dem Austausch des Panels und einer konzentrierten Diskussionsarbeit. Im Anschluss an unsere Panel-Arbeit ist eine Veröffentlichung der Ergebnisse als Sonderheft einer Fachzeitschrift vorgesehen.
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Tanja Prokic (LMU, München)
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