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Dringlichkeit und Grenzziehungen. Zur Analyse der Polykrise im deutschen und französischen Sprachraum: (Post-)Migration, Pandemien und Klima-Energie. Interdisziplinäre Tagung | Metz

Beginn
20.11.2025
Ende
21.11.2025
Deadline Abstract
28.04.2025

Die Gegenwart wird durch eine Vielzahl von Krisen geprägt. Deren rasche Abfolge bzw. Gleichzeitigkeit erweckt das Gefühl von Fortbestehen, Dauerhaftigkeit und somit auch von konvergierenden Nostandssituationen. Man denke an die Klimakrise oder an die so genannte Flüchtlingskrise. Die Covid-19-Pandemie hatte ihrerseits komplexe Auswirkungen: Das unerwartete und extrem schnelle Aufkommen im Frühjahr 2020 stellte bis dato bestehende Gewissheiten, ja die erlebte Normalität an sich in Frage. Innerhalb kürzester Zeit wurden Maßnahmen zum Umgang mit der Krise entwickelt, umgesetzt, wieder verworfen und ständig angepasst, um so auf die Schnelligkeit der pandemischen Ausbreitung sowie auf die damit einhergehende Ungewissheit zu reagieren. 

Wird die Krise im Allgemeinen als eine Umwälzung definiert, die den normalen Lauf der Dinge unterbricht (Opillard 2023) und somit Raum für Ungewissheit lässt, so ermöglicht es Dringlichkeit, die Krisen grundsätzlich innewohnt, kollektive oder individuelle Formen der Subjektivität zu berücksichtigen. 

In der heutigen Zeit deckt Dringlichkeit aufgrund der semantischen Verschiebungen, von denen die Entwicklung des Konzepts zeugt, ein breites Feld von Erscheinungsformen ab: Das Besondere an der Dringlichkeit (urgence) sei, Bouton zufolge, dass sie sich vom ihrem ursprünglichen Kontext - dem Sterberisiko - löse, um sich in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft niederzuschlagen, in die sie sich unauffällig eingeschlichen habe. Im Französischen erfolge eine solche Verschiebung umso leichter, als ein und derselbe Begriff (urgence) auf eine Notlage mit Lebensgefahr sowie auch auf Dringlichkeit bzw. auf das, was drängt, hinweise (Bouton 2013, S. 44). 

Im Rahmen dieser Tagung soll die Komplexität des Begriffs "Dringlichkeit", d.h. die ihm zugrunde liegende Mehrdimensionalität, hinterfragt werden. Dringlichkeit kann somit als (lebens-)bedrohliche Situation, als Notlage, verstanden werden. Sie ist aber auch als eine Extremsituation anzusehen, auf welche aufgrund ihres akuten Charakters schnellmöglichst reagiert werden muss, damit sie letztlich vermieden werden kann. 

Parallel soll Dringlichkeit durch das Prisma von Grenzen und Grenzziehungen untersucht werden. Diese werden im Rahmen der Border Studies als ein komplexes Gefüge von Praktiken, Diskursen, Normen und Relationen definiert (Wille 2021, 116ff.). Im Fokus sollen also Phänomene der "De-Stabilisierung" von Grenzen stehen, wie diese heute angesichts dringlicher Situationen im Zusammenhang mit den erwähren Krisen auftreten. Indem wir uns mit den Matters of Urgency  (Kolesch et al. 2025) beschäftigen, wollen wir das kritische Potenzial der Dringlichkeit hinsichtlich einer Weltordnung hinterfragen, die von Grenzziehungen und Hierarchien geprägt ist (beispielsweise in gender- und artenspezifischer Hinsicht). 

Erzeugt Dringlichkeit eine andere Ordnung in dem Augenblick, in dem sie aufgerufen wird, und macht sie dadurch verschiedene Erscheinungsformen der Zeitlichkeit, der Räumlichkeit und der Affekte erfahrbar? Die Praktiken der Dringlichkeit setzen notwendigerweise verschiedene Interventionsmechanismen voraus (Niehoff et al. 2025, S. 130), welche im Zusammenhang mit Grenzziehungen untersucht werden können. Es bliebt zu fragen, inwiefern Dringlichkeit agency mit einschließt.  

Proposals aus der Literaturwissenschaft (Germanistik / Romanistik), der Theaterwissenschaft und der Geografie sind willkommen. Dabei soll Dringlichkeit im Zusammenhang mit den drei Themenfeldern - (Post-)Migrationen, Pandemien und Klima-Energie - Eingang in die Reflexion finden. Jedem dieser drei Felder wird ein eigenes Panel zugewiesen. 

Die Beitragsvorschläge können sich gerne auf einen oder mehrere Schwerpunkte beziehen. Diese Liste erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit: 

Schwerpunkt 1 - Dringlichkeit: in action und inaction

Wird Dringlichkeit mit Aktion, Militanz und Aktivismus in Verbindung gebracht, so kann die Fähigkeit, die Reichweite und die Darstellung kollektiven Handelns angesichts der Ungewissheit in Krisensituationen hinterfragt werden. In diesem Sinne stehen die Normen - oder ganz im Gegenteil - die Brüche und Abweichungen, die aus einer dringlichen Situation hevorgehen, im Fokus. 

Das Augenmerk soll zudem auf entscheidungsbefugte Instanzen, die einem Ereignis den Dringlichkeitsfaktor verleihen können, sowie auf die Bedeutung unterlassener Aktionen im Zuge der Dringlichkeit gelenkt werden. 

Ziel ist es auch, eine Typologie der Muster von (Inter-)Aktions- und Reaktionsformen zu entwickeln. Wie diese dann auf territorialer Ebene bestimmt werden können, bleibt zu hinterfragen. 

Schwerpunkt 2 - Zeitlichkeit und Räumlichkeit der Dringlichkeit

Hinsichtlich ihrer zeitlichen Dimension gilt Dringlichkeit zwar im Wesentlichen als Aufforderung zum Reagieren, gleichtzeitig weist sie aber auch Paradoxien auf. Klimanot z.B. wird ab und an auch als "lange andauernde Dringlichkeit" (Kunstler 2005) bezeichnet und schreibt sich somit in eine verzerrte Zeitwahrnehmung ein. 

Selbst wenn es naheliegt, dass Zeitlichkeit bei drängenden Problemen einen wesentlichen Faktor darstellt, lässt sich darüber hinaus dei Frage nach der "Räumlichkeit der Dringlichkeit" und deren Modalitäten stellen, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zu Grenzen und anderen liminalen Phänomenen. 

Schwerpunkt 3 - Potential der Dringlichkeit 

Über die Ungewissheit hinaus ruft Dringlichkeit Unruhe hervor, welche aber andere Sichtweisen auf den Menschen und seine Umwelt generieren kann. In diesem Zusammenhang können entweder Erinnerungsprozesse oder Zukunftsvisionen untersucht werden. Dabei rückt die gesellschaftliche bzw. politische Funktion von Narrativen und Erzählungen in den Vordergrund. Inwieweit ermöglicht es Dringlichkeit, Grenzen (ästhetische, soziale, institutionnelle, rechtliche, technische usw.) abzubauen, zu überschreiten oder zu verschieben? Welche künstlerischen, literarischen Experimente oder Szenografien ergeben sich aus dem Drang, etwas sagen, etwas anprangern oder vor etwas warnen zu wollen? Werden neue Phantasiewelten, neue Materialitäten und Emotionen oder ganz allgemein andere Formen von Beziehungen (zum Lebenden) sichtbar gemacht? 

Das Projekt wird vom CIERA (Centre Interdisciplinaire d'Etudes et de Recherches sur l'Allemagne) und vom Center for Border Studies der Universität der Großregion gefördert. 

Die Tagung findet am 20. und 21. November 2025 in Metz statt. Die Arbeitssprachen sind Französisch, Deutsch (mit Verdolmetschung für beide Sprachen) und Englisch. 

Eine Publikation ist geplant. 

Kurze Abstracts (max. 15 Zeilen) mit bio-bibliographischer Notiz in deutscher und französischer Sprache werden per Email bis zum 28.04.25 erbeten an:

Dr. Cécile Chamayou-Kuhn: cecile.chamayou-Kuhn@univ-lorraine.fr

Dr. Carole Wernert: carole.wernert@univ-lorraine.fr

Zitierte Literatur:

Bouton C. (2013), Le temps de l'urgence. Lormont, Le Bord de L'eau. 

Kolesch D., Lazardig J., Schrödl J., Seidler L.-F., Walch T., Warstat M. (Hrsg.) (2025), Matters of Urgency - Herausforderungen der Gegenwart in Theater und Wissenschaft, Berlin, Universities Publishing. 

Kunstler J.H. (2018), The Long Emergency: Surviving the End of Oil, Climate Change, and Other Converging Catastrophes of the Twenty-First Century, New York, Grove Press. 

Niehoff S., Renvert E., Warstat M., Woisnitza M. (2025), "Wie stehen die Fronten? Konfliktlinien, Rhetoriken und Verfahren der Dringlichkeit im 'Proletarischen Arbeitertheater' um 1930". In: Kolesch D., Lazardig J., Schrödl J., Seidler L.-F., Walch T., Warstat M. (Hrsg.), Matters of Urgency - Herausforderungen der Gegenwart in Theater und Wissenschaft, Berlin, Universities Publishing, S. 123-143. 

Opillard C., Sardier T. (2023), "Spatialiser l'urgence, politiser nos choix". In: Il y a urgence! Les géographes s'engagent. Paris. Ed. CNRS, p. 7-14. 

Wille C. (2021), "Vom processual shift zum complexity shift: Aktuelle analytische Trends der Grenzforschung". In Gerst D., Klessmann M., Krämer H. (Hrsg.), Grenzforschung. Baden Baden, Nomos, S. 106-120.

Contact Information

 Cécile Chamayou-Kuhn

Université de Lorraine 

UFR ALL - Metz / Département d'Allemand 

Ile du Saulcy

F- 57 000 Metz

Contact Email

cecile.chamayou-kuhn@univ-lorraine.fr

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literatur aus Deutschland/Österreich/Schweiz, Französische Literatur, Ecocriticism, Literatur und Soziologie, Poetik

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Université de Lorraine
Datum der Veröffentlichung: 11.04.2025
Letzte Änderung: 11.04.2025