Anarchismus und Sexualität(en)
Anarchist_innen waren (und sind) stets aktiv in Befreiungsbewegungen – auch innerhalb sexueller Befreiungsbewegungen. Die erste Homosexuellenzeitung Europas – Der Eigene (1896-1932) – war eine anarchistische Gründung, die anarchistische Sexualreformbewegung setzte sich für die Entkriminalisierung von Homosexualität ein und auch in der Homosexuellenbewegung der 1960er Jahre waren Anarchist_innen, wie der Franzose Daniel Guérin, sehr aktiv. Ein früher Vorläufer der emanzipatorischen Strömungen und Kämpfe war der französische Frühsozialist Charles Fourier, der mit seiner Utopie einer freien Liebeswelt in Gefolgschaft des Marquis de Sade die Befreiung der Sexualität propagierte und als ein Vorläufer des Anarchismus gelten kann.
Gleichzeitig gab (und gibt) es auch jede Menge Homo- und Transphobie in der Bewegung. Weibliche Homosexualität war zudem lange Zeit überhaupt kein Thema und wurde selbst in anarchafeministischen Strömungen ignoriert oder gar abgewertet. Generell ist das Thema Geschlecht – sowohl im Sinne eines biologischen (sex) oder gesellschaftlich-konstruierten Geschlechts (gender) – ein großes Thema in der Bewegung. Das zeigt sich z.B. in der bis heute gebräuchlichen Beschreibung von Louise Michel als „rote Jungfrau“ im anarchistischen Diskurs.
Anarchist_innen waren dabei stets aktiv in der Sexualaufklärung – und auch das wäre aus heutiger Sicht interessant zu beleuchten, was eine moderne Form und Inhalt anarchistischer Sexualaufklärung sein kann – über eine „rein“ (queer-)feministische Position hinaus.
Aus aktueller Perspektive wären auch anarchistische Sichtweisen auf andere Bereiche der Sexualität – z.B. auf unterschiedliche sexuelle Subkulturen (Swinger_innen, BDSM, Fetisch,...) – und auch auf Phänomene wie Pornographie und Sexwork / Prostitution von Interesse. Gerade in Bezug auf Sexwork / Prostitution würde sich auch die anarchosyndikalistische Selbstorganisation von Sexworker_innen (z.B. im Rahmen der IWW oder zeitweilig in einer Sektion der FAU) als Beitrag anbieten. Als Randaspekt könnte ebenfalls die Darstellung von Sexwork / Prostitution in anarchistischer Belletristik wie z.B. dem Werk von B. Traven näher untersucht werden.
Weiterhin bietet der (anarcha-)feministische Diskurs über Sexualität – z.B. eine Gegenüberstellung von den Positionen von Andrea Dworkin und Wendy MacElroy, als den Vertreterinnen sowohl des sog. sexnegativen als auch des sexpositiven Feminismus – ein großes Potential für eine Auseinandersetzung.
Ein anderer Teilaspekt ist die kulturelle Adaption des Themas Sexualität und Erotik in der anarchistischen Bewegung, d.h. wie wird Sexualität bzw. Erotik in anarchistischer Belletristik, Spielfilmen und bildender Kunst dargestellt und abgebildet. Dazu gehören u.a. die Darstellung von Sexualität in den Werken von Marquis de Sade, Octave Mirbeau, John Henry Mackay, Henry Miller, Ursula K. LeGuin oder Starhawk sowie z.B. in den Filmen von Luis Buñuel, der Mirbeau verfilmte und bei Sade Anleihen nahm. Aber auch eine Untersuchung der Ästhetik in Bezug auf die Darstellung von Erotik in anarchistischen Publikationen (historisch und aktuell) wäre denkbar.
Nicht zuletzt wären auch Utopien einer befreiten Sexualität und konkrete Entwürfe hierfür in Form anarchistischer Science Fiction-Literatur von Brisanz. Neben Ursula K. Le Guin und Starhawk bieten sich hier auch die werke von Marge Piercy oder von Ernst Callenbach an.
Mögliche Themen im Rahmen des Bandes wären z.B.:
- Erotische bzw. pornographische Literatur und Anarchismus (z.B. Octave Mirbeau, Henry Miller, John Henry Mackay, Elfriede Jelinek….) bzw. Darstellung von Erotik aus anarchistischer Perspektive (z.B. B. Traven, Starhawk, Ursula K. LeGuin)
- Anarchistische Erotik und Sexualität im Film (z.B. Luis Buñuel)
- Die erotische Ästhetik in der anarchistischen Publizistik
- Anarchismus und sexuelle Emanzipation / Befreiung(sbewegungen) (z.B. in der queeren und Homosexuellenbewegung)
- Anarchismus und Sexualaufklärung
- Verhältnis von Anarchismus und sexueller Subkultur(en)
- Sexualität als Thema des Anarchismus
- Anarchismus und Sexualität(en) generell
- Anarchistische Perspektiven auf Sexwork / Prostitution und anarchosyndikalistische Selbstorganisation von Sexworker_innen
- Anarchistische Utopien einer befreiten Sexualität
Vorgesehen sind im Band folgende Abschnitte:
- Historische Zugänge
- Moderne und aktuelle Zugänge
- Utopische Zugänge
- Kulturelle Auseinandersetzungen mit der Thematik
- Praktische Zugänge
Der Sammelband soll unterschiedliche, sich z.T. sicherlich auch gegenseitig widersprechende Positionen aus dem anarchistischen Lager versammeln. Es ist nicht die Absicht des Herausgebers, einzelne Positionen – sofern sie nicht auf Grund ethischer Richtlinien zu verurteilen sind – zu zensieren oder zu bevorzugen. Vielmehr geht es darum, unterschiedliche Positionen innerhalb des breiten anarchistischen Spektrums abzubilden und einen Diskurs zu initiieren.
Gern gesehen sind daher kritische – im Sinne ausdifferenzierender – bzw. solidarisch-kritische Beiträge zur Geschichte, Gegenwart und auf die Perspektiven. Lobhudeleien und auf den emanzipatorischen Gehalt des Anarchismus als auch pauschale Verdammungen für Fehlentwicklungen sind dabei fehl am Platz.
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Termine und Anforderungen:
Abstract mit Kurzvita (max. 300 Wörter) : bis bis zum 1. Dezember 2025 an: maurice.schuhmann@mailbox.org.
Die Zu- bzw. eventuell Absage erfolgt zeitnahe nach der Deadline.
Danach ist noch bis zum 1. März Zeit, die fertigen Beiträge einzureichen.
Der Sammelband wird dann beim Verlag Syndikat A (https://www.syndikat-a.de) erscheinen.
Formate: Für den Sammelband sind Beiträge in unterschiedlichen Formaten möglich – z.B. Essays, Interviews, Analysen etc. pp.. Ebenfalls künstlerische Beiträge können eingereicht werden.
Ausschlaggebend sind hierbei nur die Qualität und der Bezug zur Thematik bzw. die anarchistische Perspektive. D.h. auch das Beiträge, die sich „lediglich“ im weiter gefassten linken oder queeren Spektrum bewegen und keinen erkennbaren direkten Bezug zur anarchistischen Theorie haben, abgelehnt werden.
Umfang für die Abstracts: bis zu 2.500 Zeichen (inkl. Leerzeichen)
Umfang für die Beiträge: bis zu 70.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen)
Formale Richtlinien für die Beiträge werden noch erstellt und rechtzeitig den Autor_innen zugesendet.
1Ursprünglich war dies als Schwerpunktausgabe der espero geplant. Aus unterschiedlichen gründen haben wir uns für eine Veröffentlichung in Buchform entschieden.
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Dr. Maurice Schuhmann
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