Ausgehend von der Überlieferungslage der mittelhochdeutschen Texte, die nach unserem zeitgenössischen Verständnis sehr fehlerbehaftet und lückenhaft erscheinen, befasst sich diese Arbeit mit dem Versuch, die möglichen Ursachen für diesen Sachverhalt zu filtern. Neben der Erörterung der Wurzeln der traditionellen mündlichen Textüberlieferung, soll die Frage beantwortet werden, ab wann allgemein von einem "Text" die Rede sein kann. Mit einem Überblick über die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen des Mittelalters - vor dem Hintergrund der Schrifteinführung - soll erklärt werden, wie mittelhochdeutsche Texte entstanden sind und wie und von wem sie rezipiert wurden. Es wird dargestellt, dass das Textverständnis des Mittelalters ein völlig anderes ist, als jenes, das sich für uns mit dem Buchdruck entwickelt hat. Die meisten "fehlerhaften" Überlieferungen lassen sich mit dieser Tatsache erklären. Es wird die Schlussfolgerung gezogen, dass Mündlichkeit und Schriftlichkeit keiner wertenden Dichotomie unterworfen sein sollten, sondern als Pole eines kulturellen Kontinuums zu betrachten sind.
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