Man lese: "Sie schauten einander in die Augen. Ihre trockenen Lippen zitterten in unsäglichem Verlangen und widerstandslos, ohne ihr Zutun verschlangen sich ihre Finger". Oder dies: Mein Oberarm "brannte nur so durch die Berührung. Ich starrte zwar auf den Bildschirm, doch meine Seele drang in die Seele" der Geliebten "ein". Wenig später heißt es: "Wir liebten einander mit immer größerer Lust, in der allmählich alles aufging, unsere Vergangenheit, unsere Zukunft, all unsere Erinnerungen". Entstammen diese Zeilen etwa Romanen wie "Wenn das Herz spricht" oder "Herzen in Aufruhr" (Marie Louise Fischer) oder "Was Gott zusammenfügt" (Hedwig Courths-Mahler)? Weit gefehlt - es handelt sich um Passagen aus Romanen der Weltliteratur, von Gustave Flaubert bzw. Orhan Pamuk. An ihrem Beispiel sei im Folgenden die Rolle des Kitsches in (post-)avantgardistischer Dichtung beleuchtet. Gegen Ende des Romans "Museum der Unschuld" (2008), der sich als "ausführlicher Katalog" des gleichnamigen realen Museums in Istanbul versteht, weist Pamuks unglücklicher Held Kemal einen Bekannten, den "eifrigen Geschichtenerzähler" Orhan Pamuk, der das Katalog-Buch zum Museum schreiben soll, auf Flaubert hin, dessen Madame Bovary von seiner Geliebten Louise Colet inspiriert worden sei, sowie darauf, dass Flaubert beim Schreiben intime Dinge jener Louise ("eine Locke, ein Taschentuch und ein Pantöffelchen") zur Hand nahm und sie liebkoste. Die Fixierung auf die Dingwelt verschleiert in diesem Fall eine viel tiefer gehende, strukturale Verwandtschaft dieser beiden Romane. Obgleich ihr Handlungsplot ganz verschieden ist, erzählen sie beide von trivialpoetischen Selbsterzählungen, die, weil sie nicht mit solchen anderer verständigt sind, ins Unglück führen und mit dem Selbstmord einer jungen Frau enden. Wenn also der Ton des Erzählers in beiden Fällen zuweilen die Grenze des Kitsches streift, liegt das daran, dass er die kitschigen, kolportagehaften Züge in den Selbsterzählungen der Protagonisten, das heißt Flauberts Emma Bovary und Pamuks Kemal Basmaci, herauspräpariert. So verschieden diese Romanfiguren: eine frustrierte Arztgattin in normannischer Provinz des 19. Jahrhunderts, ein reicher Jungunternehmer im Istanbul des späten 20. Jahrhunderts, auch sind, in einem konvenieren sie: ein Kolportageroman in ihrem Kopf stürzt sie ins Unglück, lässt sie ihr Leben versäumen.
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