„Soñando con el Norte o Living the (American) Dream – Gegenwartsnarrativik über Migration, Flucht und Exil aus Mittel- und Südamerika in den globalen Norden“
„Soñando con el Norte o Living the (American) Dream – Gegenwartsnarrativik über Migration, Flucht und Exil aus Mittel- und Südamerika in den globalen Norden“
Konferenz am 4. und 5. Dezember 2025
Institut für Romanistik | Universität Wien
Migration, Flucht und Exil prägen nicht nur weltpolitische Debatten, sondern rücken zunehmend auch in den Fokus literarischer und medialer Diskurse. Die geplante Konferenz widmet sich der Analyse zeitgenössischer Literaturen und Medien, die sich mit der Migration, der Flucht und dem Exil aus Mittel- und Südamerika in den globalen Norden beschäftigen. Im Fokus stehen u.a. ästhetische Strategien, Raum-Zeit-Erfahrungen, Konstruktionen kulturellen Gedächtnisses, hybride und liminale Identitäten, literatur- und medienphilosophische Zugänge, postkoloniale Perspektiven sowie die kritische Reflexion von Begriffen wie „Migrationsliteratur“, die oft vereinfachende Zuschreibungen reproduzieren. Darüber hinaus sollen auch Fragen nach Menschen sine fundamento inconcusso im extensiven Sinne thematisiert werden.
Literatur eignet sich bekanntlich in besonderem Maße dazu, interne Prozesse von Menschen in Bewegung – seien es von Migrierenden, Fliehenden oder Exilierten, darzulegen, die andernfalls verborgen blieben. Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang vom (bewegten) Menschen als „nicht festgestelltem Tier“. Dieses nietzscheanische Konzept lässt sich auf sämtliche „liminale“ Subjekte übertragen: von Verfolgten, Vertriebenen, Exilierten über Emigrierte und Immigrierte, Aus- und Einwanderer:innen bis hin zu Gastarbeiter:innen und Nomaden. In diesem Kontext ist auch Julia Kristevas (1990) Konstatierung relevant: „Fremde sind wir uns selbst“. Ebenso prägnant formuliert Gilles Deleuze (2006): „No hay una línea recta, ni en las cosas ni en el lenguaje.” Valeria Luiselli (2016) beschreibt in einem Passus aus Los Niños Perdidos: “El problema es que las historias de los niños [migrantes] siempre llegan como revueltas, llenas de interferencia, casi tartamudeadas. Son historias de vidas tan devastadas y rotas, que a veces resulta imposible imponerles un orden narrativo.” In Hinblick auf transnationale Bewegungen verweist zudem Walter Mignolo (2003) pointiert auf das Paradox der gleichzeitigen Öffnung wirtschaftlicher und Schließung ziviler Grenzen: „Ahora bien, el fenómeno curioso y paradójico que presenciamos cada vez más pronunciadamente es el doble juego de a) abrir las fronteras económicas (por ejemplo la nueva política económica de Estados Unidos para América Latina […]) y b) cerrar las fronteras civiles a los migrantes de América Latina (entre otros, claro) hacia Estados Unidos“. Angesichts der Globalisierungsprozesse, des Neoliberalismus und der weltpolitischen Konflikte affiziert diese Problematik auch zunehmend literarische und mediale Auseinandersetzungen. Zudem bedarf auch die kaum haltbare Unterscheidung zwischen Migrant:innen als freiwillig und Flüchtlinge als unfreiwillig in die Fremde Gestoßene einer profunderen Betrachtung. Ebenso können bereits vielfach diskutierte Grenz- und Raumkonzepte, etwas nach Michel de Certeau (1990), Michel Foucault (1992), Marc Augé (1992), Homi Bhabha (1994), Ottmar Ette (2005), Doreen Massey (2005) u.a. erneut ins Zentrum der Analysen gerückt werden. Gina Valdés (1982) bringt es auf den Punkt: „Hay tantísismas fronteras que dividen a la gente, pero por cada frontera existe también un puente“. Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich hier enumerieren.
Ziel der Tagung ist es daher, die Komplexität transnationaler Erfahrungen von Migrierenden, Fliehenden, Exilierten aus Mittel- und Südamerika jenseits territorialer Fixierungen herauszuarbeiten und Literatur als Medium kultureller wie individueller Transformation zu begreifen.
Zur Diskussion stehen unter anderem folgende Fragestellungen:
- Wie gestalten literarische Texte Migration als Prozess der Überlagerung von Räumen und Zeiten? Inwiefern bedienen oder brechen sie Erzählmuster der „Migrationsliteratur“?
- Welche Rolle spielen Erinnerungsnarrative in der Konstruktion von Heimat und Fremde? Wie interagieren individuelle und kollektive Gedächtnisse in Texten?
- Ist der Begriff „Migrationsliteratur“ angesichts hybridisierter Identitäten noch adäquat? Welche alternativen Kategorisierungen (z.B. „Poetik der Migration“) sind denkbar?
- Wie werden Grenzen, Transiträume und Ankunftsorte literarisch inszeniert? Welche Erzähltechniken (z.B. Multiperspektivität) tragen zur Darstellung fragmentierter Identitäten bei?
- Inwiefern reflektieren Texte Machtverhältnisse im Kontext nord-südlicher Migrationsbewegungen?
Mögliche Themenfelder:
- Dekonstruktion des „Nordens“ als utopische/dystopische Projektionsfläche
- Migrationen und Diaspora – vom globalen Süden in den globalen Norden
- Grenz-, Flucht- und Exilnarrative
- Intermediale Ansätze: Migration in Film, Graphic Novels und digitalen Medien
- Rückkehr in die „alte“ Heimat im Sinne einer Odyssee oder Remigration
- Rassismus | Ablehnung des „Anderen“ (Othering)
- Gender- und klassenkritische Perspektiven auf Fluchtnarrative
- Literarische Repräsentationen indigener Migrationserfahrungen
- Kriminalisierung von Migrant:innen, Flüchtlingen
- Verlust von Identität und Nationalität
- Transkulturelle Missverständnisse
- Migrationspolitik
- Postkoloniale Lesarten von Exilliteratur
Beiträge zu diesen und weiteren Fragestellungen sind herzlich willkommen. Wir freuen uns über Abstracts (ca. 500 Wörter) mit kurzem CV bis zum 15.09.2025 an: alexandra.semler@univie.ac.at und melanie.heiland@univie.ac.at . Die Publikation ausgewählter Beiträge ist vorgesehen.
- Vortragssprachen: Spanisch (bevorzugt) und Deutsch