Sensus Non-Communis. Gegenwarten im Widerstreit, Bonn
Sensus Non-Communis. Gegenwarten im Widerstreit
Internationale Tagung
13.-14. Juni 2024
Universität Bonn
Einer gängigen Auffassung zufolge ist die heutige Zeit charakterisiert durch eine radikale Nicht-Gemeinschaftlichkeit. „Wir sollten nicht betonen, was alle Menschen verbindet, sondern vielmehr das, was uns trennt [...]: Mitglieder einer Gruppe können die Erfahrungen anderer Gruppen nie wirklich nachvollziehen“,[1] so die Rede. Die Möglichkeit der anschlussfähigen Kommunikation, einander am selben Ort oder zur selben Zeit gegenüberzutreten, wird zunehmend angezweifelt. Ein solches Gegenübertreten meinte bekanntlich das deutsche Wort Gegenwart in seiner ursprünglichen Bedeutung. Diese neue Nicht-Gemeinschaftlichkeit wäre das Ende einer Gegenwärtigkeit, wie sie lange für gesellschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Prozesse bestimmend war.
Die Tagung versteht sich als Raum für eine produktive Auseinandersetzung mit dieser Zeitdiagnose. Historisch schlägt sie eine Brücke von der frühen Neuzeit über das 18. und 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Die Vorträge fächern die Frage des sensus (non-)communis aus begriffsgeschichtlicher, philosophiehistorischer, medialer und postkolonialer Perspektive auf. Sie diskutieren die Bedeutung des Gemeinsinns unter anderem bei Giordano Bruno, Immanuel Kant, Friedrich Schiller und Hannah Arendt, nehmen jedoch auch eine postkoloniale Perspektive auf die frühneuzeitliche Genese westlicher Universalismen ein. Ferner wird nach den literarischen und medialen Interventionsmöglichkeiten zur Herstellung einer geteilten Gegenwart oder eben zur Feststellung ihrer Abwesenheit gefragt. In seinem Abendvortrag zeichnet Prof. Dr. Jürgen Fohrmann verschiedene Modelle des sensus communis bei Kant und die Bedeutung von Reziprozität für die Operativität des sensus communis nach.
Sensus non-communis soll dabei auch als ein unhintergehbar Geteiltes bei dem Anzeigen von Unteilbarem verstanden werden – einen möglicherweise doch geteilten Sinn dafür, was die eigene Sichtweise von denen anderer immer schon trennt.
[1] David Brooks, “Universities are failing at inclusion”, New York Times, 16. Nov. 2023 (Übers. Martyn).
Programm
1. Tag: Donnerstag, 13.6.2024
09:45 Uhr: Begrüßung
10:00-10:45: Gabriel Trop (Durham): Giordano Bruno: On the Power of the Bond
10:45-11:30: Glen Gray (Baltimore): Die Grenzen des Mitleids: Enteignung der Gefühle bei Metastasio
11:30-12:00: Kaffeepause
12:00-12:45: Christian Moser (Bonn): Der bon sens des versammelten Volks: Revolution - Theater - Gemeinwille, 1789-1793
12:45-13:30: Christiane Frey (Baltimore): “…in ihrer Art ungemein”: Launiges Unvernehmen zwischen Shaftesbury, Wieland und Kant
13:30-14:30: Mittagessen
14:30-15:15: Luke Beller (Baltimore): “Das gesellige Gesetz”: (Un-)Sociability between Kant and Schiller
15:15-16:00: David Martyn (St. Paul): “…wir verstehen uns einander nicht”: Maimon, Reinhold und die unbeherrschbare Inklusivität des Streitgesprächs
16:00-16:30: Kaffeepause
16:30-17:30: Abendvortrag
Jürgen Fohrmann (Bonn): ‘Gemeine Sense‘? Reziprozitätsannahmen und Operativität des sensus communis
2. Tag: Freitag, 14.6.2024
09:30-10:15: Katharina Kraus (Baltimore): Kant on the Human Perspective, the Formation of Meaning, and the Sensus Communis
10:15-10:30: Kaffeepause
10:30-11:15: Rochelle Tobias (Baltimore): On the History of Forgetting: Kafka’s “Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse”
11:15-12:00: Fabian Rüther (Bonn): West-östliche Epochenverschleppungen: Gregor von Rezzoris Ein Hermelin in Tschernopol und der Mythos “Mitteleuropa”
12:00-13:00: Mittagessen
13:00-13:45: Sophie Modert (Bonn): Österreichisches Vaterland und deutsche Nation: Zum Verhältnis von Schulstufe und kultureller Identität im Österreich des 19. Jahrhunderts
13:45-14:30: Sarah Goeth (Innsbruck): Beobachteter Gemeinsinn: Statistisches Erzählen des Sozialen im 19. Jahrhundert
14:30-14:45: Kaffeepause
14:45-15:30: Inés Noé (Bonn): Das lateinamerikanische testimonio als literarische Intervention: Politische Fragen zur Ästhetik im Spannungsfeld zwischen sprechen und schreiben
15:30-16:15: Pablo Valdivia (Frankfurt/Oder): Sensus communis oder commons: Überlegungen zum Verhältnis von Besitz, Ästhetik und Gemeinschaft in der kolonialen Moderne
16:15-16:30: Kaffeepause
16:30-17:30: Dorothea von Mücke (New York): Sensus Communis for Immanuel Kant, Hannah Arendt, and Ana María Goméz Lopéz
Response by Ana María Goméz Lopéz
17:30-18:15: Abschlussdiskussion
Sensus Non-Communis. Gegenwarten im Widerstreit — GRK 2291 Gegenwart/Literatur (uni-bonn.de)
Teilnahme per Zoom auf Anfrage möglich. Anfragen bitte an Anna Stelter: grk2291@uni-bonn.de
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Sophie Modert
DFG-Graduiertenkolleg 2291 Gegenwart/Literatur.
Geschichte, Theorie und Praxeologie eines Verhältnisses
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