Krisen als Impulse für die Germanistik? Überlegungen, Untersuchungen, Reflexionen, Seoul
Krisen als Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung haben in der germanistischen Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft eine lange Tradition: Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (1668) thematisiert den Dreißigjährigen Krieg, Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1794-5) die Französische Revolution, und während seiner sogenannten Kant-Krise (1800-01) überkamen Heinrich von Kleist fundamentale Zweifel an der Verlässlichkeit empirischen Wissens. Die Sprachkrise um 1900 findet ihren Niederschlag in Hoffmannsthals Brief an Lord Chandos (1902), Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1944) thematisiert die Krise des rationalen Denkens, die Lyrik Paul Celans den Zivilisationsbruch des Holocaust, Günter Grass’ Roman Die Rättin (1986) die atomare Bedrohung … die Zahl der Beispiele ließe sich nahezu beliebig vermehren.
Historisch-etymologisch betrachtet bezeichnet das Wort Krise (von griech. krísis: Streit, Urteil, Entscheidung, Wendepunkt) in der antiken Medizin „die finale Phase des Krankheitsprozesses mit der Wendung zu Gesundung oder Sterben“ (Steg 2020, 425). Auf so unterschiedliche Bereiche wie Politik, Rechtswissenschaft, Soziologie und Theologie übertragen, impliziert der Begriff die Existenz „zugespitzte[r] Alternativen, die keine Revision mehr zul[ass]en: Erfolg oder Scheitern, Recht oder Unrecht, Leben oder Tod, schließlich Heil oder Verdammnis“ (Koselleck 2006: 204). Bereits im Jahr 1982 erklärt Reinhart Koselleck das Konzept der Krise zur „strukturellen Signatur der Neuzeit“ (627), während der Philosoph Paul Ricœur gar von einer „permanente[n] Struktur der conditio humana“ (1986: 53) spricht.
Die Geschichte scheint Ricœur Recht zu geben, denn im Jahr 2023 ist die Krise zum Dauerzustand geworden: Klimakrise, Flüchtlingskrise und Finanzkrise beeinflussen und verschärfen einander; Populisten stellen die Demokratie und Verschwörungstheoretiker Grundannahmen der Weltwahrnehmung in Frage. Die Corona-Pandemie hat nicht nur das Vertrauen in die Stabilität des gesellschaftlichen Zusammenlebens erschüttert, sondern auch zu tiefer persönlicher Verunsicherung geführt: Das Gefühl, in einem dauerhaften und allgegenwärtigen Krisenzustand zu leben, bildet für viele Menschen eine immer größere seelische Belastung, die selbst krisenhafte Züge annimmt.
Diese fundamentale Krisenhaftigkeit der menschlichen Existenz wird zum Gegenstand der Germanistik, sofern ihre konkreten Ausprägungen eben auch in deutschsprachigen Äußerungen, Werken der deutschen Literatur oder Diskursen zum Ausdruck kommen, die die deutsche Kultur und Gesellschaft betreffen. Zugleich aber liegt es in der Natur globaler Krisen, dass ihre Wirkungszusammenhänge und Implikationen weit über den begrenzten Bereich einer Nationalsprache, ihrer Literatur und Kultur hinausweisen.
Diese Tagung setzt sich aus interkultureller und interdisziplinärer Perspektive mit dem Thema der Krise auseinander. In Beiträgen aus der germanistischen Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache erörtern Kolleginnen und Kollegen aus Asien, Afrika, Nordamerika und Europa eine Vielzahl verschiedener Aspekte dieses komplexen Themas.
Genauere Informationen zu Anmeldung und Anreise finden Sie unter https://gig.snu.ac.kr/
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Dr. Christian Baier
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