Schwerpunktheft der KWZ (Frühjahr 2026): MOTHERING Formen, Politiken und Potentiale des gegenwärtigen Booms von Mutterschaftserzählungen
CFP für Schwerpunktheft der KWZ (Frühjahr 2026) zum Thema
MOTHERING
Formen, Politiken und Potentiale des gegenwärtigen Booms von Mutterschaftserzählungen
Dr. Anna-Maria Post (Universität Konstanz, Germanistik)
Dr. Anna Karina Sennefelder (Universität Freiburg, Medienkulturwissenschaft)
Mutter oder Nicht-Mutter, das scheint noch immer die Frage aller Fragen zu sein, bzw. die „Mutter aller Fragen“, wie Rebecca Solnit ihren einschlägigen Essay genannt hat (Solnit 2017). Zugleich wird das lang tradierte Credo, mater semper certa est, in unserer Gegenwart dank Debatten um pränatale, reproduktive medizinische Eingriffe, Eizellenspenden und Leihmutterschaft erschüttert. Kulturwissenschaftlich betrachtet war Mutterschaft jedoch noch niemals eindeutig und ‚sicher‘, sondern schon immer ein Feld erbitterter biopolitischer, sozialer und geschlechtsbezogener Kämpfe. Dennoch findet sich Mutterschaft erst seit etwa 10 Jahren als intensiv verhandeltes Sujet in Literatur, Kunst und Kultur, das – so unsere These – insbesondere in den letzten fünf Jahren einen bemerkenswerten Boom, eine komplexe poetologische Ausdifferenzierung sowie eine immense politische Wirkkraft entwickelt hat. Entsprechend vielfältig sind die Medialisierungen und Diskursivierungen von Mutterschaft und vor allem ihrer Ambivalenz in der Gegenwart. Sie reichen von politisch motiviertem Verzicht auf Mutterschaft aus Klimaschutzgründen(#birthstrike, vgl. Keßler 2023) über Eingeständnisse postnataler Depressionen (vgl. Wessely 2024), ‚stiller Geburt‘, Fehlgeburt (vgl. Mundruczó 2021) und Abtreibungen (vgl. Gneuß/Weber 2023), bereuter (vgl. Hefffernan; Stone 2021) oder gar abgegebener (vgl. Gómez Urzaiz 2024) bis hin zu queerer (vgl. Dolderer, Holme et.al. 2018)und interspezies-Mutterschaft (vgl. Ullrich 2015) oder posthumanistischen und dystopischen Fiktionen, in denen die Mutter eine KI-gesteuerte Maschine ist (vgl. Sputore 2019), sich nachts in eine reißende Bestie verwandelt (Yoder 2022; Heller 2024) oder als ‚Mutter Erde‘-Allegorie von Mann und Menschheit brutal ausgebeutet und zerstört wird (Aronofsky 2012).
Dass Mutterschaft und die Ambivalenz der Erfahrungen des Mutterwerdens und des Mutterseins derzeit so populär sind, hängt indes nicht nur mit sozialen und emanzipatorischen Errungenschaften oder zunehmender Gender-Gerechtigkeit und Sichtbarkeit zusammen, sondern auch damit, dass es beim mothering um etwas zutiefst Existenzielles geht, das dennoch, zumindest in der europäischen Kulturgeschichte, erstaunlich lange nur marginal reflektiert wurde. Mütterfiguren waren bisher – etwa im Drama der Aufklärung, im bürgerlichen Trauerspiel, in der Genremalerei, in Märchen oder in der empfindsamen Briefliteratur – typischerweise eher blasse Randfiguren, die allenfalls als klinische (Hysterie, Wahnsinn, Suizid) oder familiäre Ausnahmefälle (böse Stiefmütter, Ehebruch, Kindsmord) oder als glorifiziertes Idealbild (Muttergottes) künstlerische Beachtung fanden. Schwangerschaft, Geburt und mütterliche Sorgearbeit hingegen sind völlige Leerstellen. Bereits die Terminologie ist hier eindeutig, wie Eleonora Wicki jüngst unter Verweis auf den programmatischen Text A woman born. Motherhood as Experience and Institution von Adrianne Rich herausgestellt hat. Schon 1976 hatte Rich konstatiert, dass „motherhood“ – also ‚Mutterschaft‘ – eine „patriarchale Institution“ sei, die das Muttersein beeinflusst und prägt und die sie in einer steilen These gar mit „Vergewaltigung, Prostitution und Sklaverei“ gleichsetzte (Rich 1995, 33). Die eigentlich bedeutsame Tätigkeit, die das Muttersein definiere und die in der Übernahme von lebenslanger Verantwortung bestehe, sei viel besser mit dem Begriff mothering zu fassen (vgl. Wicki 2024, 189-190), weshalb auch wir diesen Terminus präferieren. Dennoch gilt, dass auch ‚Mutterschaft‘ als patriarchale Institution eine große Rolle in den von uns untersuchten Beispielen spielt, da längst nicht alle medialen Repräsentationen ihren Schwerpunkt auf mothering im Sinne einer existentiellen Tätigkeit legen. Wir möchten dieser begrifflichen Differenz deshalb im Schwerpunktheft entsprechend Raum geben und auch metareflexive Beiträge, die spezifisch Mutterschaft und mothering gegenüberstellen, integrieren.
Den wirkungsvollsten Aufschlag für die neuere mothering-Literatur hat Rachel Cusk 2001 vorgenommen, wobei ihr der autobiographisch inspirierte Roman A life's work: On becoming a mother insbesondere in Großbritannien zunächst nur Kritik und Häme bescherte, da sie ehrlich und ungeschönt Dinge wie Überforderung, Isolation, Wut und Ohnmacht beschrieb – und damit all jene Facetten, die üblicherweise diskret verschwiegen wurden, wenn es um Mütter ging (vgl. Cusk 2008). Mittlerweile zählt Cusk zu einer der international erfolgreichsten Autorinnen und ist vielfache Referenz für mothering-Erzählungen,[1] was zeigt, wie sehr sich auch die Rezeption innerhalb weniger Jahre verändert hat. Plötzlich kann ein Roman über Mütter und mothering (vgl. Heti 2018; Fallwickl 2022; Dröscher 2022) oder auch ein Sachbuch, das Care- und Sorgearbeit oder Elternschaft diskutiert, zum Beststeller werden (vgl. Bücker 2022; Donath 2023).
Die deutsche Übersetzung von Cusks wichtigem Referenztext hatte, bezeichnenderweise, zunächst bis 2017 auf sich warten lassen, spätestens seitdem aber ist ein anhaltender, sich bis heute ungebrochen fortsetzender Trend an mothering-Erzählungen zu verzeichnen, der sämtliche Gattungen und Medienformate erreicht hat, sodass sich aktuell bereits ein beachtlicher Kanon aus Romanen, Erzählungen und Sachbüchern im europäischen Raum konturieren lässt. Darüber hinaus sind international erfolgreiche Filme (neben den oben genannten z.B. Villeneuve 2019; Gyllenhaal 2021; Almodovar 2021) und Serien (vgl. Reitmann 2017-2023; Tigelaar et al. 2020) entstanden und jüngst erschienen auch Graphic Novels, die mütterliche Emotionen und Herausforderungen thematisieren (vgl. Frühbeis 2023; vgl. Picault 2023). Aktuell finden sich zudem erste Lyrische (vgl. Wolf 2024) und dramatische Auseinandersetzungen (vgl. #motherfuckinghood; de Demo, Dröse 2024) sowie prominente Kunstausstellungen (vgl. The Bad Mother 2024; Mama. Von Maria bis Beyoncé 2025). Nicht zuletzt sind, als ganz eigener Bereich, die heterogenen Inszenierungsformen von Mutterschaft in den Sozialen Medien zu beachten, die Phänomene wie ‚sad beige moms‘ (vgl. FunkyFrogBait 2024) oder ‚tradwives‘ (vgl. ARD 2024) ebenso hervorbringen wie eine unüberschaubare Menge an ‚Mommy-Blogs‘ (vgl. Robinson 2024) oder das aktuell ethisch und medienrechtlich stark kritisierte family influencing (vgl. Dobrot 2024).
Trotz dieser Bandbreite an Repräsentationen von mothering hat die Forschung bislang vor allem danach gefragt, inwiefern sich feministische Forderungen in gegenwärtigen Formen der Mutterschaft realisiert finden. Auch der Bereich Social Media (vgl. etwa Meilicke 2022; Petra Schmidt 2020) und die sozialgeschichtlichen Entwicklungen rund um Mutterschaft als Institution wurden diskutiert und es sind neben einschlägigen Handbüchern (vgl. Lazzari, Widmaier Capo, 2022; Dlabaja; Fernandez; Hofmann 2022) auch wertvolle Einzelbeiträge, wie etwa zum Verhältnis von multiplen Krisen und der ‚Krise von Mutterschaft‘, entstanden (vgl. Arnold-Baker 2020).
Insgesamt aber zeigt der Blick auf die Forschung der letzten 10 Jahre, dass mothering als eigenständiges Sujet, das neue Poetiken, Figuren und politische Forderungen produziert, nicht eingehend untersucht wurde, weshalb wir mit unserer Forschung diesem drängenden Desiderat begegnen wollen.
Unserer These nach etabliert sich aktuell ein großes literarisches und mediales Feld, indem Mutterschaft als komplexes, anthropologisch zentrales und zugleich zukunftsbildendes Thema verhandelt wird. Besonders bedeutsam sind dabei die narrativen und ästhetischen Formen, die gewählt werden, die politischen Signale und Appelle, die mit mothering korrelieren und die neuen, oftmals sehr kreativen und transgressiven Figuren, die in Erscheinung treten. Die Beiträge in unserem geplanten Schwerpunktheft sollen entsprechend der oben skizzierten Forschungslücke insbesondere die verschiedenen FORMEN, POLITIKEN und POTENTIALE von mothering in diversen medialen Formaten und Kontexten der Gegenwart beleuchten.
Leitende Fragen sind für uns dabei:
ZUR FORM
· Wie wird mothering aktuell konkret erzählt?
· Welche literarischen Formen und medialen Repräsentationen dominieren?
· Sind spezifische Mütterfiguren zu finden, und falls ja, wie lassen sich diese fassen?
· Welche Codes und Symboliken sind diskursprägend?
· Welche Referenzen, intertextuellen Bezüge lassen sich erkennen?
· Gibt es bereits einen Kanon von Narrativen, die mothering und / oder Mutterschaft verhandeln, in den die gegenwärtigen Repräsentationen sich einreihen?
· Welche Topoi sind in den untersuchten Texten, Filmen und Serien besonders virulent?
· Gibt es Typisierungen, die transmedial wiederkehren?
· Lassen sich erste Subgattungen in der Supragattung mothering-Erzählung ausmachen?
ZU DEN POLITIKEN
· Welche sozialen Themen sind untrennbar mit mothering verbunden?
· Wie wird Care- und Sorgearbeit in den verschiedenen Medienformaten diskutiert?
· Gibt es konkrete politische Forderungen oder Konzepte? Wenn ja, welche?
ZU DEN POTENTIALEN
· Welches gesellschaftspolitische Potential birgt die Reflexion von Mutterschaft?
· Welche Rolle sollte mothering in zukünftigen Gesellschaften haben und warum?
· Inwiefern hängen die multiplen Krisen der Gegenwart mit einer möglichen Krise von mothering zusammen?
· Gibt es eine spezifische Korrelation von Klimakrise und ‚Mutterschafts‘-Krise und spiegelt sich diese in ökofeministischen Erzählungen?
Wir freuen uns auf Beitragsvorschläge, die sich mit diesen oder ähnlich gerichteten Fragen beschäftigen! Abstracts (max. 300 Wörter) senden Sie bitte bis zum 15.05.2025 an anna-maria.post@uni-konstanz.de und anna.sennefelder@mkw.uni-freiburg.de.
Zeitplan
15.05.2025 Einreichung von Titel, Abstract (max. 300 Wörter) und kurzen biobibliographischen Angaben
01.06.2025 Benachrichtigung über die Annahme des Beitrages
30.10.2025 Abgabe der Manuskripte (6.000–9.000 Wörter) an die Herausgeber*innen
Publikation im Frühjahr 2026
Zitierte Titel
ARD, hr: Past Forward. Tradwives – Hausfrauen-Revival auf Instagram? 10.10.2024. https://www.ardmediathek.de/video/past-forward/tradwives-hausfrauen-revival-auf-instagram/ard/NDc3MTkyYWItYTE2My00MTY1LTgwNGMtNTk3ZDg2ZjY1ZTFl
Aronofsky, Darren [Regie]: Mother! 2017.
Arnold-Baker, Claire: The Existential Crisis of Motherhood. Cham: Palgrave Macmillan 2020. https://doi.org/10.1007/978-3-030-56499-5
Baur, Ingolf (Moderation): Birthstrike - Keine Kinder fürs Klima. NANO vom 18. April 2024. https://www.3sat.de/wissen/nano/240418-sendung-birthstrike-keine-kinder-fuers-klima-nano-100.html [zuletzt abgerufen am 21.19.2024]
Bücker, Teresa: Alle Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit.Berlin: Ullstein 2022
Cusk, Rachel A life's work: On becoming a mother. London: Fourth Estate 2001.
Cusk, Rachel: I was only being honest. In: The Guardian. 21.3.2008. [zuletzt abgerufen am 22.10.2024]
De Demo, Calude; Dröse, Jorinde; Hansen, Julia; Kleemann, Jörg; Seeger, Mario; trachte, Karolin: #motherfuckinghood. Berliner Ensemble. https://www.berlin.de/tickets/theater/motherfuckinghood-06ed3779-8f6a-4360-8161-f9f02f06ef0d/
Dlabaja, Cornelia, Karina Fernandez, und Julia Hofmann, Hrsg. Handbuch Sozial Ungleichheiten: Von der Analyse zu ihrer Überwindung. Weinheim: Juventa Verlag 2022.
Dobrot, Norah: Is Family Influencing Unethical? In: The Franklin Post. 2.10.2024. https://fhspost.com/10062/forum/is-family-influencing-unethical/
Dolderer, Maya; Holme, Hannah; Jerzak, Claudia; Tietge, Ann-Madeleine (Hg.): O Mother, where are thou? (Queer-)feministische Perspektiven auf Mutterschaft und Mütterlichkeit. Münster: Westfälisches Dampfboot 2018.
Donath, Orna: Regretting Motherhood. Wie Frauen mit einem unerlaubten Gefühl leben. München: Penguin 2023.
Dröscher, Daniela:Lügen über meine Mutter.Köln: Kiepenheuer & Witsch 2022.
Fallwickl, Mareike: Die Wut, die bleibt. Hamburg: Rowohlt 2022.
Frühbeis, Lisa: Der Zeitraum. Oder wie ich versuchte, das Monster in mir zu lieben. Hamburg: Carlsen 2023.
FunkyFrog Bait: The sad Beige moms of TikTok. 2014. https://www.youtube.com/watch?v=sZK0sE_bPgI [6.11.2024]
Gneuß, Charlotte; Weber, Laura Dshamilja (Hg.): Glückwunsch. 15 Erzählungen über Abtreibung, München: Hanser 2023.
Gómez Urzais, Begoña: Mütter, die gehen. Aus d. Span. v. Christiane Quandt. Berlin: aufbau 2024.
Heller, Marielle [Regie]: Nightbitch. 2024.
Heffernan, Valerie; Stone, Katherine: #regrettingmotherhood in Germany. Feminism, Motherhood and Culture, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 46/2 (2021) 343.
Heti, Sheila: Motherhood.London: Harvill Secker 2018.
Keßler, Verena: Eva, Berlin: Hanser 2023.
Lazzari, Laura; Widmaier Capo, Beth (Hg.), The Palgrave Handbook of Reproductive Justice and Literature. Cham: Palgrave MacMillan 2022.
Meilicke, Elena: Mommy Media. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Nr. 875, April 2022, 49–56.
Mundruczó, Kornél [Regie]: Pieces of a Woman 2021.
Picault, Aude: Amalia. Aus dem Französischen von Lilian Pithan. Reprodukt 2023.
Reitman, Catherine [Regie]: Workin' Moms, Canadian Broadcasting Corporation (CBC)/ Wolf and Rabbit Entertainment, 2017–2023.
Rich, Adrienne: Of Woman Born: Motherhood as Experience and Institution. New York 1995 [1976].
Robinson, Ryan: 13 Best Mom Blogs You Need to Follow in 2024. 2024. https://www.ryrob.com/mom-blogs/ [6.11.2024]
Solnit, Rebecca: The mother of all questions. Chicago, Illinois: Haymarket Books 2017.
Sputore, Grant [Regie]: I am Mother. 2019.
Tigelaar, Liz et al. [Regie]: Little Fires Everywhere, ABC Signature/Best Day Ever Productions/Hello Sunshine/Sipson Street, 2020.
Ullrich, Jessica: Interspecies Mothering in der zeitgenössischen Kunst. In: (Hg.): Tiere – Texte – Transformationen. Kritische Perspektiven der Human-Animal Studies. Bielefeld: transcript 2015, 74–94.
Wessely, Christina: Liebesmühe. München: Hanser 2024.
Wolf, Uljana: muttertask. Berlin: kookbooks 2024.
Wicki, Eleonora: Zur Ambivalenz von Mutterschaft. In: conexus 6/1 (2023) 184–202.
Yoder, Rachel: Nightbitch. Stuttgart: Klett-Cotta 2022.
[1] In Ermangelung eines passenden konventionellen Begriffs schlagen wir zunächst ‚mothering-Erzählungen‘ als Alternative zu ‚Mutterschaftserzählungen‘ vor, möchten aber gerne markieren, dass dies kein finaler Begriff ist und wir auch diese terminologische Lücke in unserem Schwerpunktheft adressieren.