Kafkas „Osten“ – Kafka im „Osten“ (Tagung der Deutschen Kafka-Gesellschaft) | Leipzig
Tagung der Deutschen Kafka-Gesellschaft
Universität Leipzig
Bibliotheca Albertina
5.–7. November 2026
Die Schauplätze und Handlungsräume in Kafkas Texten sind mannigfaltig. Viele lassen sich gar nicht näher bestimmen, andere erscheinen vordergründig identifizierbar, ohne freilich ernsthaft auf Referentialisierung zu setzen. Topologie, Topographie und Raumsymbolik sind allemal wichtiger als Geographie. Dennoch gibt es einige wiederkehrende großräumige Angaben wie Amerika, China und Russland einerseits sowie Osten und Westen andererseits. Die Länder und Himmelsrichtungen repräsentieren dabei wesentlich umfängliche Vorstellungskomplexe mit entsprechenden Imagologien. So verbindet sich „Amerika“ nicht nur im Verschollenen dezidiert mit einer Freiheits- und Modernitätssemantik, „Rußland“ oft mit Konzepten wie Einsamkeit und Verlorenheit, etwa im Fall des Freundes in Das Urteil oder auch in der fragmentarischen Erzählung „Erinnerungen an die Kaldabahn“, während im Blick auf „China“ mehrfach Fragen nach dem Eigenen und Fremden sowie die Bedingungen von Kommunikation verhandelt werden, zum Beispiel in der Erzählung „Beim Bau der Chinesischen Mauer“. Und natürlich steht „Amerika“ implizit für den „Westen“, während „Rußland“ und „China“ im wörtlichen wie im übertragenden Sinne auf die vermeintlich unendlichen Räume des „Ostens“ rekurrieren; die positionale und sprachpolitische Sonderrolle Prags bei dieser Vermessung der Welt ist dabei ebenso mitzudenken wie diejenige des Autors, der in einem vornehmlich tschechischen Umfeld seine Texte auf Deutsch schreibt. Hierbei fällt auf, dass der „krumme Westjude“, wie Kafka sich in einem Brief an Max Brod vom April 1921 selber nennt, eher an der Opposition von „Westen“ und „Osten“ interessiert ist als an der älteren, traditionsreicheren und lange Zeit wirkmächtigeren Entgegensetzung von „Norden“ und „Süden“, wie sie unter seinen Zeitgenossen vor allem Thomas Mann und Gottfried Benn noch poetologisch funktionalisiert haben.
Diesem Aspekt gilt das erste Erkenntnisinteresse der geplanten Tagung. Der Fokus soll auf die Auseinandersetzung des Autors mit dem Osten im weitesten Sinne gerichtet sein, auf seine weit gefassten Vorstellungen, Begriffe, Erfahrungen und Bilder vom „Osten“, wie sie in seinen literarischen Texten, Tagebüchern und Briefen sichtbar werden, wie sie sich aber auch vor dem Hintergrund der ausgeprägten zeitgenössischen Aufmerksamkeit für diesen Vorstellungskomplex darstellen. Diese Auseinandersetzung geht weit über die „unendliche Anziehungskraft Rußlands“ hinaus (Tagebuch, 14. Februar 1915). Sie ist erstens verknüpft mit Kafkas literarischen Interessen (z.B. Dostojewski, Gogol) sowie einer Vielzahl von Lektüren und Notaten (etwa zu Napoleons Russland-Feldzug; vgl. Tagebuch, 1. Oktober 1915). Zweitens führt sie ins Zentrum seines jüdischen Selbstverständnisses, sofern sich dieses in der Begegnung mit ostjüdischen Theater- und Erzähltraditionen, mit einer orthodoxen Religiosität und mit dem Jiddischen – dem „Jargon“ – als Sprach- und Denkraum schärfer ausbildet. Drittens ergibt sich daraus auch ein Zusammenhang mit Kafkas Auffassung von Wert und Funktion „kleiner Literaturen“, für die ihm die durch Jizchak Löwy vermittelte jüdische Literatur in Warschau und die zeitgenössische tschechische Literatur als konkrete Beispiele dienen.
Das zweite Erkenntnisinteresse der Tagung soll der offiziellen und inoffiziellen Rezeption Kafkas in Ostmitteleuropa gewidmet sein, insbesondere während der Zeit des Kalten Krieges, weil sich diese Rezeption aufgrund der (literatur-)politischen, ideologischen und historischen Erfahrungen erheblich von der deutschen, französischen und angelsächsischen Rezeption unterscheidet – und zwar so stark, dass sie im Handbuch-Artikel zur Rezeption des Autors nicht einmal der Erwähnung für würdig befunden wurde (vgl. von Jagow/Jahraus 2008). Freilich ist der offizielle, kulturpolitische Umgang der „östlichen Lagergesellschaft“ (Imre Kertész) mit dem Autor klar von der Chiffre Kafka zu trennen: Offiziell wurde er verfemt, verboten, mit Zensur belegt oder einfach als „überholt“ abgetan, da er nichts weiter sei als das Verfallsprodukt der dem Tode geweihten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform und dementsprechend zu einer auf Fortschritt ausgerichteten Geschichtskonzeption nichts beizutragen habe, in der DDR ebenso wie in Polen, der ČSSR oder Ungarn. Und schon gar nicht erschien sein Schreiben mit den lange nachhallenden Postulaten des Sozialistischen Realismus vermittelbar. Es genügt, in diesem Zusammenhang an die scharfe Verurteilung Kafkas durch Georg Lukács zu erinnern, auch wenn dieser seine Einschätzung später revidiert haben mag. Dabei hingen die offiziellen Positionierungen zum Autor oft von der politischen Großwetterlage ab und waren dementsprechend starken Schwankungen unterworfen, eine prinzipielle Distanz blieb indes stets gewahrt. Für die ČSSR hat Marek Nekula diese Entwicklungen eindringlich beschrieben; besonders berühmt ist in diesem Zusammenhang auch die Liblice-Konferenz von 1963, die von der Forschung intensiv bedacht wurde und dabei selbst fast mythische Züge angenommen hat. Eine Rolle spielten außerdem Versuche ‚westlicher‘ Autoren, Kafkas Werk in eine strikte Opposition zu den kommunistischen Gesellschaften zu setzen, so etwa Georges Bataille in La littérature et le mal (1957).
Der äußerlich verweigerten Anerkennung steht in den kommunistischen Gesellschaften in Form eines Gegenkanons, zu dem u.a. auch Proust und Joyce als Vertreter des Modernismus zu rechnen wären, die nachhaltige innere Aneignung durch AutorInnen und LeserInnen dieser Gesellschaften gegenüber. Da galt Kafka, sofern man Zugriff auf seine Texte hatte, oft als Geheimtipp, der zugleich entscheidendes Wissen über die totalitären Bedrückungen bereitzuhalten schien, denen man in den Lagergesellschaften täglich ausgesetzt war, wo zudem das Kafkaeske nicht die Ausnahme, sondern die Regel bildete. Kafka fungierte als eine Art Chiffre, mit der man sich über die Zustände verständigen und sich zugleich von ihnen distanzieren konnte. Die von Jean-Paul Sartre 1962 auf der Weltfriedenskonferenz in Moskau geforderte „Abrüstung“, die den Entstellungen von Kafkas Werk „im Westen und im Osten“ entgegenwirken sollte, hat sich insofern zugunsten einer entschieden agonalen Rezeption nicht durchgesetzt – Kafkas Texte wurden, so könnte man in loser Anlehnung an eine Unterscheidung von Umberto Eco formulieren, nicht nur als Erkenntnisgegenstände interpretiert, darüber hinaus wurden sie als Erkenntnismittel benutzt. Das zeigt sich beispielsweise in Werken von Wolfgang Hilbig, Tadeusz Różewicz, Libuše Moníková oder Imre Kertész, der dazu im Galeerentagebuch festhält: „Das Schloß ist das Bild einer Welt in Knechtschaft, die auf einer allgemeinen Übereinkunft basiert. Jeder Osteuropäer weiß das genau und schweigt erschrocken darüber und stottert dem Westen (der den Roman nicht versteht) erschrocken nach, daß Das Schloß irgendetwas Transzendentes sei, während man halb ohnmächtig sieht, daß es ein genauer Befund des osteuropäischen Lebens ist: das Bild einer Welt der Knechtschaft, die auf allgemeiner Übereinkunft basiert.“
Wenn Kertész zudem in Letzte Einkehr konstatiert, dass sich „irgendwann einmal auch noch herausstellen wird, wie sehr Kafkas Romane osteuropäische Romane sind“, dann ist präzise die doppelte Perspektivierung angesprochen, welcher die Tagung in der Verschränkung von Kafkas Imagologie des Ostens einerseits und der kulturpolitisch brisanten Rezeption Kafkas im östlichen Mitteleuropa andererseits nachgehen will.
Ausgewählte Literatur:
Bataille, Georges: Die Literatur und das Böse. Berlin 2011.
Becher, Peter / Steffen Höhne / Jörg Krappmann / Manfred Weinberg (Hg.): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Stuttgart 2017.
Behn, Manfred: Auf dem Weg zum Leser. Kafka in der DDR. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Franz Kafka. München: Text+Kritik 1994, S. 317–332.
Blahak, Boris: „Ein Tscheche? Nein". Franz Kafkas topographisch bedingte Exophonie und die innerste Dyade von Judentum und Slavia. In: Klavdia Smola, Olaf Terpitz (Hg.): Jüdische Räume und Topographien in Ost(mittel)europa: Konstruktionen in Literatur und Kultur. Wiesbaden 2014, S. 23–55.
Dahms, Christiane: Kafka in der DDR: Zur Karriere eines "Geheimtips" In: Peter Goßens, Monika Schmitz-Emans (Hg.): Weltliteratur in der DDR. Berlin 2015, S. 145–163.
Dodd, William John: Kafka and Dostoyevsky The Shaping of Influence. Basingstoke / London 1992.
Dresler, Jaroslav: Kafka and the Communists. In: Survey: A Journal of East & West Studies 36 (1961), S. 27–32.
Engel, Manfred / Bernd Auerochs (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2010.
Engel, Manfred / Dieter Lamping (Hg.): Franz Kafka und die Weltliteratur. Göttingen 2006.
Erbe, Günter: Wandel im Umgang mit der Moderne in der DDR: Das Beispiel Kafka. In: Margy Gerber u.a. (Hg.): Selected Papers from the Fourteenth New Hampshire Symposium on the German Democratic Republic. Lanham, MD 1989. S. 115–129.
Etkind, Efim: Franz Kafka in sowjetischer Sicht. In: Claude David (Hg.): Franz Kafka. Themen und Probleme. Göttingen 1980. S. 229–237.
Goldstücker, Eduard (Hg.): Franz Kafka aus Prager Sicht. Prag 1965.
Goldstücker, Eduard (Hg.): Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Prag 1967.
Goldstücker, Eduard: Zur Ost-West-Auseinandersetzung über Kafka – Zehn Jahre nach der Kafka-Konferenz von Liblice.. In: Miklós Almàsi (Hg.): Franz Kafka. Nachwirkungen eines Dichters. München: 1984, S. 47–70.
Goll, Francesca: ‚Ich liebe Kafka, weil er Realist ist’. Die Realismus-Debatten um das Werk Franz Kafkas. In: Oxford German Studies 53/2 (2024), S. 176–191.
Györffy, Miklós: Kafka und Ungarn: Die Jahrzehnte der Latenz. In: Imre Kurdi (Hg.): Konnte Rilke radfahren? Frankfurt/M. 2009, S. 119–126.
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Hermsdorf, Klaus: Kafka in der DDR. Erinnerungen eines Beteiligten. Hrsg. von Gerhard Schneider und Frank Hörnigk. Berlin 2006.
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Höhne, Steffen / Ludger Udolph (Hg.): Franz Kafka. Wirkung und Wirkungsverhinderung. Köln / Weimar / Wien 2014.
Jobst, Kristina / Harald Neumeyer (Hg.): Kafkas China. Würzburg 2017.
Kertész, Imre: Galeerentagebuch. Reinbek bei Hamburg 32016.
Kertész, Imre: Letzte Einkehr. Ein Tagebuchroman. Reinbek bei Hamburg 22016.
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Susman, Walerij: Kafkas Rußland – Rußlands Kafka In: Podium 93 (1994), S. 30-37.
Susman, Walerij: Zur Semantik des „Russland-Bildes“ bei Kafka. In: Alexandr W. Belobratow, Alexej I. Žerebin (Hg.): Dostojewskij und die russische Literatur in Österreich seit der Jahrhundertwende. St. Petersburg: 1994, S. 131–140.
Tuckerova, Veroniká: Reading Kafka in Prague. On Translation, Samizdat, Censorship, Export, and Dissent. New York 2025.
Von Jagow, Bettina / Oliver Jahraus (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Göttingen 2008.
Winkler, Norbert / Wolfgang Kraus (Hg.): Franz Kafka in der kommunistischen Welt. Kafka-Symposion 1991, Klosterneuburg. Wien / Köln / Weimar 1993.
Wir bitten um Einreichung der Themenvorschläge bis 31. Juli 2025.
Umfang: max. 500 Wörter
Organisation und Kontakt:
Deutsche Kafka-Gesellschaft: vorstand@kafka-gesellschaft.org
Prof. Dr. Dirk Oschmann (Universität Leipzig) – Präsident: dirk.oschmann@uni-leipzig.de
Dr. Alexander Kling (Universität Bonn) – Geschäftsführer: akling@uni-bonn.de