Text/Naturen. Von der Beobachtung zur Form in Literatur und Naturwissenschaften
Text/Naturen
Von der Beobachtung zur Form in Literatur und Naturwissenschaften
Workshop im Hamburger Warburg-Haus, Freitag, 08. April 2022, Universität Hamburg
Organisation: Jule Thiemann, Felix Lempp, Antje Schmidt
Förderung: Claussen-Simon-Stiftung
Die Frage nach der Repräsentation der Klimakrise in der Literatur ist ein kurrentes Debattenthema – nicht nur im deutschsprachigen Feuilleton. So markiert der indische Schriftsteller Amitav Ghosh den anthropogenen Klimawandel zugleich als kulturelle Herausforderung: Er kritisiert seine mangelnde ästhetische Bearbeitung als Folge einer seit dem 19. Jahrhundert bestehenden Arbeitsteilung zwischen empirisch-experimentellen Naturwissenschaften und dem literarischen Feld, was zu einer Ausgrenzung naturwissenschaftlicher Wissenszusammenhänge aus dem literarischen Imaginären geführt habe. Dass diese Beschreibung jedoch zu kurz greift, zeigt bereits ein Blick auf die Gegenwartsliteratur. Indem deutschsprachige Autor*innen wie Mara-Daria Cojocaru, Marion Poschmann oder Mikael Vogel Text/Naturen entwickeln, dabei literarisch versiert biologisches Wissen gestalten und mit wissenschaftlichen Formen wie Bestiarium, Herbarium, Feldnotiz oder Nature Journal experimentieren, unterlaufen sie die von Ghosh unterstellte Abgrenzung klar. Ferner ist dem Germanisten Ludwig Fischer zufolge für das international populäre Nature Writing – ein Genre, das seine Wurzeln im 18. und 19. Jahrhundert hat – nicht nur eine subjektiv-leibhaftige Erkundung von Umwelt unabdingbar, sondern ebenso eine präzise, an biologischen Fakten und Benennungspraktiken geschulte (Natur-)Wahrnehmung der Schreibenden.
Die Vorträge des interdisziplinären WorkshopsText/Naturen. Von der Beobachtung zur Form in Literatur und Naturwissenschaften fragen nach dem produktiven Austausch zwischen naturwissenschaftlichen und literarischen Wahrnehmungs-, Ordnungs-, und Schreibpraktiken vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Wie wird Wissen über Natur jenseits des konkreten Moments ihrer Beobachtung (literarisch) konserviert bzw. generiert? Welche Schreibpraktiken und Formen biologischer Wissensproduktion werden in literarischen Texten produktiv aufgenommen? Welche kreativen, parapoetischen Potentiale haben taxonomische Benennungspraktiken zur Bestimmung von Pflanzen und Tieren? Und in welchem Verhältnis steht diese Wissensproduktion, wie sie exemplarisch in Taxonomien der empirischen Naturwissenschaften manifest wird, zu kolonialen, gewaltvollen Welterschließungen, aber auch indigenem ökologischen Wissen? Den zur Beantwortung dieser Fragen notwendigen Blick über die Grenzen der wissenschaftlichen Einzeldisziplinen hinaus nimmt der Workshop ein, indem er durch seine Konzentration auf den Formaspekt Repräsentationen von Natur als Zusammenspiel von naturwissenschaftlichen wie literarischen Praktiken des (Be-)Schreibens untersucht.
Nach dem Vortragsprogramm findet eine thematisch angeschlossene Abendveranstaltung im Warburg-Haus statt. Mara-Daria Cojocaru – Lyrikerin, praktische Philosophin und Trägerin des Deutschen Preises für Nature Writing 2021 – wird in diesem Rahmen aus ihrem jüngst erschienenen Buch der Bestimmungen lesen. In dieser fulminanten Gedichtsammlung geht sie hochaktuellen ethischen und poetischen Fragen zur Bestimmung von Menschen und anderen Tieren nach – mit einem feinen Gespür für das Zusammenspiel von naturwissenschaftlicher Formgebung und lyrischer Sprache. Der Eintritt zur Lesung mit anschließendem Gespräch ist frei.
Programm:
9:30–10:00
Jule Thiemann, Felix Lempp, Antje Schmidt
Einführung
10:00–10:45
Margaret Raven, Social Policy Research Centre, University of New South Wales
‚Reading‘ and ‚naming‘ country? Unpacking metaphors and practices to understand Indigenous relationships with country/environment
10:45–11:15
Kaffeepause
11:15–12:15
Ludwig Fischer, Universität Hamburg
Poesie des Benennens. Über den Gebrauch von Namen und Zuschreibungen in Nature Writing
12:15–13:00
Jule Thiemann, Universität Hamburg
Enzyklopädien des Unzuverlässigen. Ordnendes Erzählen in Rudolf Borchardts und Lola Randls Gartenbüchern
13:00–14:00
Mittagspause
14:00–14:45
Sophia Jochem, Freie Universität Berlin
Pilze vs. Empire: Eine geopolitische Momentaufnahme der Fäulnis im 19. Jahrhundert
14:45–15:30
Adrian Renner, Universität Hamburg
Textnaturen und Naturtexte. Dialogisierung und immersives Erzählen bei Bruno Wille und Wilhelm Bölsche
15:30–16:00
Kaffeepause
16:00–17:00
Marcus Twellmann, Universität Hamburg
Für eine Formpoetik der Symbiose
17:00–17:30
Abschlussdiskussion: Von der Beobachtung zur Form
18:30–20:00
Abendlesung und Gespräch mit Mara-Daria Cojocaru,
Lyrikerin und praktische Philosophin
Zur Bestimmung von Menschen und anderen Tieren