Kindheit medial. Kindheits- und Jugendkonstruktionen im aktuellen Comic
Kindheit und Jugend sind zentrale Kategorien kinder- und jugendliterarischer Texte, wobei sie auf mindestens drei Ebenen realisiert werden: (1) Die Protagonist:innen sind meist Kinder oder Jugendliche. Diese Altersfokussierung hat möglicherweise mit der spezifischen Adressatenbezogenheit zu tun: (2) Weil sich kinder- und jugendliterarische Texte – jenseits von Fragen der Mehrfachadressierung – an Kinder und Jugendliche richten, stellen sie eben Kinder und Jugendliche ins Zentrum. Ob diese enge Kopplung des Alters der (fiktiven) Protagonst:innen an das avisierte Lesealter der (empirischen) Adressaten wirklich zutrifft, muss selbstverständlich ausführlicher erörtert werden; gleichwohl scheint eine gewisse Verbindung zu bestehen, die man wiederum auf bestimmte Vorstellungen der Leserlenkung und Identifikationserzeugung zurückführen könnte. (3) Schließlich werden mit Geschichten über Kinder und Jugendliche auch unterschiedliche Vorstellungen von Kindheit und Jugend realisiert, die eine normative Dimension entfalten. Kindheit und Jugend verstehen wir auf dieser Ebene als kulturelle Konstrukte, die in den Texten selbst ausgehandelt werden. Insofern handelt es sich hierbei um eine Meta-Ebene der Konstruktion von Kindheit und Jugend, die sowohl im Symbol- als auch im Handlungssystem vielfältige Rückkopplungen aufweist.
Im Rahmen unserer Tagung möchten wir uns mit diesen drei Ebenen am Beispiel einer besonderen Textsorte, nämlich Comics und Graphic Novels, ausführlicher auseinandersetzen. Denn Comics und Graphic Novels haben für die Darstellung von Kindheit und Jugend eigene mediale Darstellungsformen ausgebildet, die u.a. mit mnemopoetischen Verfahren die Grenze von Fiktion und Wirklichkeit in Frage stellen. Bezüge zu den Age Studies (vgl. Benner/Ullmann 2019), aber auch der (Auto-)Biographieforschung (vgl. Dollhäubl 2009; Giesa 2015) und der erinnerungskulturellen Theorie (vgl. Gansel 2009; Stemmann 2018) stecken den methodischen Rahmen ab, um die Konstruktionen medialer Kindheit und Jugend in Comics und Graphic Novels herauszuarbeiten.
Auf der Tagung werden wir die kindlichen und jugendlichen Protagonist:innen ausgewählter Comics und Graphic Novels hinsichtlich der medialen Repräsentation von Kindheits- und Jugendvorstellungen in den Blick nehmen. Insbesondere normative Vorstellungen von „Kind- und Jugendgemäßheit“ (vgl. Ewers 2022, 132-143) werden in Comics und Graphic Novels auf spezifische Art und Weise verarbeitet: Die Bi-Modalität der Darstellung eröffnet dabei Potenziale, über etablierte Erzählformen und -strukturen hinauszugehen (vgl. Dolle-Weinkauff 2005, 498). In Martin Panchauds Die Farbe der Dinge (2020) wird beispielsweise auf eine mimetische Abbildung der handelnden Figuren verzichtet. Stattdessen werden die Figuren durch farbige Punkte repräsentiert. Die Ästhetik changiert zwischen der Optik eines frühen Computerspiels und dem eines Smartphone-Displays. Ist diese Art und Weise der Darstellung möglicherweise eine Reaktion auf sich wandelnde Kindheiten und Jugendphasen in medialen Kulturen der Gegenwart? Als bildbasiertes Medium war der Comic seit seiner Entstehung fast immer ein wichtiger Bestandteil von Kinder- und Jugendkulturen. Im Zeitalter einer Kultur der Digitalität (vgl. Stalder 2016) lösen sich ehemals feste Grenzziehungen auf; verschiedene Formen des visuellen Erzählens prägen beispielsweise den Alltag in digitalen Kommunikationswegen.
Insbesondere Comics und Graphic Novels sind für die Erörterung von Konzepten der Kindheit und Jugend außerdem von besonderer Bedeutung, weil sie Fragen der Adressierung aufwerfen (vgl. Lexe 2016; Giesa 2018). Zweifelsohne gibt es Comics, die v.a. von Kindern und Jugendlichen rezipiert werden. Genauso gibt es aber auch Comics und Graphic Novels, die sich eher an erwachsene Leserinnen und Leser richten. Welche Vorstellungen von Kindheit und Jugend werden in diesen Texten konstruiert? Und wie werden die unterschiedlichen Kindheits- und Jugendvorstellungen in die literarische Komposition integriert?
Dass insbesondere Comics lange Zeit unter einem erheblichen Legitimationsdruck standen, könnte ferner für die Untersuchung der Kindheits- und Jugendkonzepte aufschlussreich sein. Damit verbunden sind auch Fragen der literarischen Traditionsbildung. Schließlich schreiben sich in viele gegenwärtige Comics tradierte (literarische) Kindheitsbilder ein, die es zu reflektieren gilt. Flix’ Comic-Strip Glückskind (seit 2015 in der FAZwöchentlich veröffentlicht) setzt in der Figurengestaltung der Protagonistin als naturverbundenes und phantasievolles Kind beispielsweise die Vorstellungen eines Kindheitsbildes der Romantik fort. Welche Kindheits- und Jugendkonzepte sind in Comics und Graphic Novels aber dominant? In welcher Verbindung stehen die Darstellungen von Kindheit und Jugend eigentlich zur Erinnerung und zu ihrer medialen Repräsentation (vgl. Stemmann 2021)?
Die hier aufgeworfenen Fragen werden wir – neben weiteren Fragen und Themen – im Rahmen unserer Tagung diskutieren. Die Tagung soll neben eher systematischen Beiträgen, die sich beispielsweise mit Aspekten der Age Studies, mit Konzepten von Kindheit und Jugend, mit Kind- und Jugendgemäßheit oder mit Standpunkten der Mehrfachadressierung befassen, auch Vorträge versammeln, die sich mit ausgewählten Comics oder Graphic Novels in Detailstudien auseinandersetzen.
Die Tagung wird vom 14. bis 15.11.2022 in Oldenburg stattfinden und wird derzeit als Präsenztagung geplant. Sie ist Teil der Oldenburger Kinder- und Jugendbuchmesse 2022 (Schwerpunkthema: Comics und Graphic Novels). Eine Publikation der Beiträge in Form eines Sammelbands ist geplant. Reise- und Unterkunftskosten werden erstattet.
Interessierte können ein Abstract (ca. eine DIN A4-Seite) für ein Vortragsthema bis zum 1.6.2022 an JProf. Dr. Anna Stemmann (anna.stemmann@uni-leipzig.de) und an JProf. Dr. Thomas Boyken (t.boyken@uol.de) schicken. Bitte legen Sie Ihrem Abstract auch eine Kurzbiographie bei.
Literatur
Benner, Julia/Ullmann, Anika: Doing Age. Von der Relevanz der Age Studies für die Kinderliteraturforschung. In: Gabriele von Glasenapp, Emer O’Sullivan, Caroline Roeder, Michael Staiger, Ingrid Tomkowiak (Hg.): Jahrbuch der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung: Fakt, Fake und Fiktion 2019, S. 145-159.
Dollhäubl, Carmen: Ich – eine Comicfigur. Analyseansätze und Lektüreanregungen zum autobiographischen Comic. In: kjl&m H.3, 2009, S. 53-60
Dolle-Weinkauff, Bernd: Comics für Kinder und Jugendliche. In: Günter Lange (Hg.): Taschenbuch der Kinder-und Jugendliteratur. Band 1. Baltmannsweiler 2005, S. 495-524.
Gansel, Carsten: Rhetorik der Erinnerung – Zur narrativen Inszenierung von Erinnerungen in der Kinder- und Jugendliteratur und der Allgemeinliteratur. In: Carsten Gansel, Hermann Korte (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur und Narratologie. Göttingen 2009, S. 11-38.
Giesa, Felix: Kindercomics - zwischen Anspruch und Unterhaltung. In: kjl&m extra 2018, S. 161-171.
Giesa, Felix: Graphische Künstlermythen. Comicbiographien über Künstler. In: kjl&m, H.3 2015, S. 36-50.
Lexe, Heidi: Jugend | Kultur | Literatur. In: Wynfried Kriegleder, Heidi Lexe, Sonja Loidl, Ernst Seibert (Hg.): Jugendliteratur im Kontext von Jugendkultur. Wien 2016, S. 29-51.
Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Berlin 2016.
Stemmann, Anna: Spuren der Erinnerung. Berlin als graphisches Palimpsest. In: Sabine Planka (Hg.): Berlin: Bilder einer Metropole in erzählenden Medien für Kinder- und Jugendliche. Würzburg 2018, S. 361-378.
Stemmann, Anna: Sich erinnern, Bild-Text werden. Inszenierungen, Einschreibungen und Rekonstruktionen von queeren Erinnerungen in Alison Bechdels Comic Fun Home. In: Gabriele von Glasenapp, Andre Kagelmann, Ingrid Tomkowiak (Hg.): Erinnerung reloaded? (Re-)Inszenierungen des kulturellen Gedächtnisses in Kinder- und Jugendmedien. Stuttgart 2021, S. 79-90.