Sammlung und Reihenbildung als Wissensform. Philosophische, kultur- und literaturwissenschaftliche Perspektiven.
Interdisziplinärer Workshop (online, via Zoom)
Bonn, Do., 20. Mai - Sa., 22. Mai 2021
organisiert von Sabine Mainberger
In aktuellen Diskussionen etwa um ethnologische Museen ist die Frage nach der Art des Sammelns von Artefakten und ihrer Präsentation zentral; nicht nur das Was (Auswahl) und Woher (Provenienz) ausgestellter Objekte, sondern auch ihre Anordnung werfen enorme Probleme auf, soll doch visuell und räumlich etwas vermittelt oder, besser noch: von den Besucher*innen allererst konstituiert werden, was weder sichtbarer noch spatialer Natur ist: Erkenntnis oder im weiten Wortsinn Wissen. Frühneuzeitliche und barocke Sammlungen haben ihr Verständnis des Zusammenhangs der Dinge durch räumliche Dispositionen zur Darstellung gebracht, die späteren Epochen bizarr anmuten; die seit dem 19. Jh. durchweg verzeitlichte Episteme hat sie als unwissenschaftlich verworfen; im 20. Jh. haben indes, in antihistoristischer Wendung, erneut räumliche Ordnungsmodalitäten an Interesse gewonnen. Ein herausragender Fall für die Arbeit an dieser Problematik sind die Studien des Kunst- und Kulturwissenschaftlers Aby Warburg: Seine Sammlungen von Büchern, Bildern und Materialien, seine Notate, das Projekt zum Bilderatlas Mnemosyne u.a.m. bieten kulturwissenschaftlicher Forschung noch immer Anknüpfungsmöglichkeiten und stimulieren nicht zuletzt künstlerische Interventionen.
Im 21. Jh., unter Perspektiven der Globalisierung, sind lineare historiographische Narrative allemal suspekt; es müssen vielfältige, kombinatorische Weisen gefunden werden, um hochkomplexe Dynamiken der Transformation und Interrelation kultureller Zusammenhänge aufzuzeigen. Unter den kulturwissenschaftlichen Fächern beschäftigen sich auch die Literaturwissenschaften mit derartigen Themen; sie untersuchen etwa sprachliche und schriftbildliche Formen des Ordnens (Listen, Kataloge, Verzeichnisse, Tabellen u.Ä.), die wissensgeschichtliche Arbeit enumerativer Verfahren, ihre Funktionen für Schreibprozesse, ihre Differenzen im interkulturellen Vergleich u.a.m.
Auch in der jüngeren Philosophie und Philosophiegeschichte befassen sich prominente Ansätze mit der Frage, wie – in diesem Fall – begriffliche Probleme so dargestellt werden können, dass ihre Disposition zugleich die Lösung der gestellten Probleme bedeutet. Mit Bezug zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, aber mit genuin philosophischem Interesse stellen z.B. Cassirer, Benjamin und Wittgenstein grundsätzliche methodologische Überlegungen dazu an und geben selbst Beispiele dafür.
Die genannten Philosophen treffen sich mit Warburg (und anderen zeitgenössischen Wissenschaftlern) u.a. darin, dass das Konzept der Reihe für sie zentrale Bedeutung hat. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s ist dieses Konzept zumindest in der deutschen Diskursgeschichte mit Goethes Morphologie und deren Rezeption in den Naturwissenschaften (Haeckel) sowie den Geschichts- und Kulturwissenschaften verbunden (außer an die bereits Genannten denke man an so unterschiedliche Denker und Wissenschaftler wie Simmel, Frobenius, Jolles, Propp, Spengler). In diesem Kontext steht Wittgensteins Auseinandersetzung mit dem britischen Ethnologen James Frazer, die zu einer luziden Kritik des morphologischen Ansatzes und einer auch für heutige interkulturelle Problemstellungen entscheidenden Kulturphilosophie führt.
Der Workshop widmet sich Problemen des hier skizzierten Feldes mit Beiträgen aus den Kunst- und Literaturwissenschaften, der Philosophie und der Wissenschaftsgeschichte.
Programm
Donnerstag, 20/5:
16.00-16.15
Einführung
16.15-17.00
Richard Heinrich (Wien):
Intuitionen im burst-mode. Aspekte der Serienbildung in Descartes' früher Erkenntnisphilosophie
17.00-17.45
Esther Ramharter (Wien):
Serielle Form und Funktion der Wasfs im Hohelied. Ein Fall für die Bibelexegese des 19. und 20. Jahrhunderts
17.45-18.15 Pause
18.15-19.00*
Alexandre Métraux (Heidelberg/Nancy):
Serielles Erkennen: Versuchsreihen und ihre Tücken
Freitag, 21/5:
16.15-17.00
Germán Meléndez (Bogotá):
“Wir sagen sogar nicht einmal genug, wenn wir nur so viel sagen”. Aufzählen bei Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse § 44)
17.00-17.45
Raúl Meléndez (Bogotá):
Sprachspiele und Therapie in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen
17.45-18.15 Pause
18.15-19.00
Sabine Mainberger (Bonn)/Marco Brusotti (Lecce):
Zur Epistemologie – und serendipity – morphologischer Reihen. Gespräch
19.00-19.15 Pause
19.15-20.00
Julia Mierbach (Bonn):
„Daß die Erkenntnis des Serienprinzips gegenwärtig ‚in der Luft liegt‘“: Zur Montage serieller Figuren in Paul Kammerers Das Gesetz der Serie (1923)
Samstag, 22/5:
16.00-16.45
William Díaz (Bogotá):
Serien, Repetitionen, Substitutionen: Anmerkungen zu Wissen und Unwissen (apropos Paul Valéry)
16.45-17.30
Rebecca Seewald (Bonn):
Katalogisierung des Grauens. Zu Roberto Bolaños 2666
17.30-18.00 Pause
18.00-18.45 Wolfram Pichler (Wien):
Gedankenreihen im Architekturentwurf: Zu Hermann Czechs Poetik
18.45-19.30
Abschlussdiskussion
Der Workshop findet via Zoom statt.
Anmeldung bis zum 19.05 bei Sekretariat.Mainberger@uni-bonn.de
*Der Vortrag von A. Métraux ist zugleich Teil der Veranstaltungsreihe Sammeln Lesen Denken – Collection, configuration, pensée critique. Virtuelle Ateliers am Centre Marc Bloch/Berlin, Sommersemester 2021. Informationen zum Programm und zur Anmeldung zu den anderen Terminen der Ateliers bei Marion Picker (marion.picker@univ-poitiers.fr).