Dissertation
Autor*in: Maddalena Casarini

Die Dummheit vor Gericht. Die Prozessberichte von Colette, Else Feldmann und Gabriele Tergit / Stupidity on Trial. The Court Reports of Colette, Else Feldmann, and Gabriele Tergit

Im Zentrum meines Dissertationsprojekts stehen Prozessberichte der Zwischenkriegszeit, die während der Gerichtsverhandlungen Momente der Blödheit, des Schwachsinns oder der bêtise am Werke sehen – sei es in Gestalt der Prozessbeteiligten selbst, sei es in Form kalkulierter rhetorischer Strategien. Diese »Krankheiten des Kopfes« (Kant) entziehen sich festen, positiven Definitionen, oszillieren zwischenmedizinischem und alltagssprachlichem Diskurs und bezeichnen juridische Grauzonen sowie schwerfassbare Ausnahmefälle. Während die Kriminalanthropologie (insbesondere C. Lombrosos oder P. J. Möbius‘) die intellektuelle Unterlegenheit und das verbrecherische Wesen von Frauen untermauerte und ihnen somit den Zugang zu juristischen Ämtern weiterhin versperrte, profilierten sich begabte Gerichtsreporterinnen in der Tagespresse. Dort eigneten sie sich nicht selten Dummheit oder bêtise als Strategien an, um ihre Auseinandersetzung mit juristischen Themen zu legitimieren. Gabriele Tergit (1894–1982), Sidonie-Gabrielle Colette (1873–1954) und Else Feldmann (1884–1942), die in Berlin, Paris und Wien als Reporterinnen und zugleich als Romanautorinnen tätig waren, gehören zu jener Generation, für die der Gerichtsaal nur von den Rändern aus beobachtet werden konnte. Als Feuilletonistinnen, die, wie man denken sollte, keine Ahnung von juristischen Paragraphen hatten, zeigten sie sich besonders empfänglich für die Grenzfälle ›mangelhafter‹ Verbrecher – verwirrte Frauen, verhungerte Kinder oder auch Geisteskranke, die vor Gericht landeten. Ihre Prosastücke verbreiten, popularisieren oder unterlaufen das Wissen der zeitgenössischen forensischen Psychiatrie und Kriminalanthropologie.

My dissertation project focuses on interwar court reports that see moments of stupidity, imbecility, or bêtise at work during court proceedings—whether in the guise of the trial participants themselves or in the form of calculated rhetorical strategies. These “diseases of the head” (Kant) elude fixed, positive definitions, oscillate between medical and everyday discourse, and direct attention toward juridical gray areas as well as difficult-to-grasp cases. By the early twentieth century, the field of criminal anthropology emphasized the intellectual inferiority and criminal nature of women in particular. While the theories of criminologists such as C. Lombroso and P. J. Möbius fueled efforts to bar women’s access to legal offices, talented female court reporters nonetheless distinguished themselves in the daily press, often by using questions of stupidity or bêtise in order to legitimize their coverage of legal issues. Gabriele Tergit (1894-1982), Sidonie-Gabrielle Colette (1873-1954), and Else Feldmann (1884-1942), who all worked in Berlin, Paris, and Vienna as both reporters and novelists, belong to this generation for whom the courtroom could only be observed from the margins. As feuilletonists expected to have little understanding of the law, they proved particularly sensitive to the borderline cases of “defective” criminals who ended up in court: confused women, starving children, and the mentally ill. Their prose pieces disseminate, popularize, or subvert the knowledge of contemporary forensic psychiatry and criminal anthropology.

Einrichtungen

Humboldt-Universität zu Berlin
DFG-Graduiertenkolleg 2190 "Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen"

Forschungsgebiete

Literatur aus Deutschland/Österreich/Schweiz, Französische Literatur
Beitrag von: Maddalena Casarini
Datum der Veröffentlichung: 13.03.2023
Letzte Änderung: 10.12.2023