Dissertation
Autor*in: Katharina Edtstadler

Medizinprofessionelle Leser*innen (MPL). Eine metakritische Analyse der Medical Humanities.

Verbindungen von Literatur und Medizin werden in der Komparatistik traditionell thematologisch untersucht, was auch dazu führt, dass gewonnene Erkenntnisse innerhalb der Theorie und zumeist auch innerhalb der disziplinären Grenzen verbleiben. Das interdisziplinäre Forschungsfeld der Medical Humanities, ein Diskurs der im anglophonen Sprachraum seit Jahrzehnten bekannt ist und zunehmend auch in anderen Ländern aufgegriffen wird, ist dagegen praxisorientiert und geprägt von dem Bestreben, die medizinische Ausbildung um kulturwissenschaftliche Ansätze zu erweitern. Damit soll den negativen Auswirkungen einer technisierten, rein evidenzbasierten Medizin, die dazu tendiert, den Körper in Einzelteilen zu betrachten und vom subjektiven Krankheitsempfinden zu trennen, entgegengewirkt werden.

Das Fundament des Projekts war die Erkenntnis, dass sich in diesem schwer abzugrenzenden Forschungsfeld eine relative Vormachtstellung erzähltheoretischer Ansätze beobachten lässt, die mit unterschiedlichen Hoffnungen in Bezug auf eine verantwortungsvolle und patient*innenzentrierte Medizin einhergeht. Neben einer ausführlichen Darstellung des theoretischen und institutionellen Status quo der Medical Humanities in unterschiedlichen Sprachräumen wird das Postulat, nach dem das Lesen literarischer Texte positive Effekte auf ärztliches Handeln haben könne, einer metakritischen Analyse unterzogen. Schon William Osler erkannte das große Potenzial von nicht-fachlicher Literatur für angehende Mediziner, wobei sich über die Jahrzehnte unterschiedliche Diskursstränge herausgebildet haben, welche die Studie im Detail aufschlüsselt: Zum einen gibt es die Narrative (based) Medicine, welche die klinische Praxis per se als ‚narrativ‘ beschreibt und deren Theorien darauf abzielen, schriftliche und mündliche Erzählungen im medizinischen Diskurs besser verstehen und einordnen zu können. Zum anderen wurden über nationale Grenzen hinweg stetig konkrete Konzepte zur Implementierung literarischer Texte in die Mediziner*innenausbildung vorgestellt, die Oslers frühe Vision – bewusst oder unbewusst – weiterentwickelt und an die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten jeder Zeit angepasst haben. Beide Zugänge nutzen das Erkenntnispotenzial von Literatur, was zu der Einsicht führt, dass Ärzt*innen als Leser*innen gedacht werden können, die sich von jenen Rezeptionsinstanzen unterscheiden, welche die Literaturwissenschaft routinemäßig untersucht: Denn das Ziel ihres Leseaktes ist die Erweiterung medizinprofessioneller, also außerliterarischer, Kompetenzen.  

Ausgehend von dieser These ist es das Ziel der Dissertation, diese spezifische Gruppe von medizinprofessionellen Leser*innen (Studierende der Humanmedizin) mit Hilfe eines probabilistischen Lesermodells, das schlicht als MPL bezeichnet wird, zu beschreiben, um sie so von klassischen Lesertypologien abzugrenzen. Auf diese Weise kann die angestrebte Verbesserung medizinprofessioneller Kompetenzen systematisch mit der Lektüre literarischer Texte in der Ausbildung zusammengebracht werden, wobei die Rezeptionsinstanz immer im Mittelpunkt steht. Darüber hinaus soll die Analyse nationaler, disziplinärer und institutioneller Unterschiede zur Erschließung dieses schwierig abgrenzbaren Forschungsbereiches beitragen, der gleichzeitig einen Raum für Dialoge interdisziplinärer, interkultureller und intermedialer Natur eröffnet. Obwohl sich diese literaturwissenschaftliche Dissertation der Medizin prima facie ‚von außen‘ nähert, können die gewonnenen Erkenntnisse zu einem besseren Verständnis unterschiedlicher Arten des Gebrauchs von Literatur und literaturwissenschaftlichen Methoden in der ärztlichen Ausbildung beitragen. Analog zur Maxime der Medical Humanities, Patient*innen wieder in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken (patient*innenzentriert im Unterschied zu technikbasiert), verfolgte die Studie den Anspruch, medizinprofessionelle Leser*innen in beiden Wissenschaften sichtbar zu machen (leser*innenzentriert im Unterschied zu textbasiert).

Einrichtungen

Universität Wien
Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft (EVSL)

Forschungsgebiete

Literaturdidaktik, Literaturtheorie, Rezeptionsästhetik, Erzähltheorie, Interdisziplinarität, Literatur und Psychoanalyse/Psychologie, Literatur und Kulturwissenschaften/Cultural Studies, Literatur und Naturwissenschaften, Erzählung, Nichtfiktionale Literatur allgemein, Autobiographie, Fiktionalität
Medical Humanities / Narrative Medizin / Narrative Ethik / Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin (GTE) / Lesen in der Medizin / Literatur und Medizin / Literatur und Empathie / Klinische Kommunikation / Wissenspoetik / Krankengeschichte / Pathographie
Beitrag von: Katharina Edtstadler
Datum der Veröffentlichung: 22.06.2020
Letzte Änderung: 22.06.2020