Dissertation
Autor*in: Luca Lil Wirth

Das Obszöne in der Literatur der Frühen Neuzeit

Das Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit obszöner Literatur und dem Obszönen in der Literatur der Frühen Neuzeit und untersucht literarische Figuren und Handlungen, die nicht der Norm entsprechen, die diese sogar brechen, die irritieren, grotesk, skurril, manchmal wunderbar sind oder sich am Rande des Wahnsinns bewegen. Im Fokus der Analyse stehen dabei Texte einer europäisch orientierten Germanistik. Tatsächlich bietet die Frühe Neuzeit ein breites Spektrum an obszönen Untersuchungsgegenständen im Gewand verschiedener Gattungen an: Von zahlreichen liederlichen Mären, komisch-derben Fastnachtspielen bis zu anstößigen Schwanksammlungen und obszöner oder galanter Lyrik ‒ das Obszöne zieht sich wie ein roter Faden durch unterschiedliche, meist (doch nicht ausschließlich) ‚niedere‘ literarische Gattungen der Frühen Neuzeit, die nur so gespickt von doppel- oder mehrdeutigen Anspielungen, Motiven, Figuren und Handlungen sind.

Fassen wir heute unter ‚Obszönität‘ meist sexuelle und skatologische Transgressionen, so muss der Begriff in der Frühen Neuzeit deutlich weiter gedacht werden, wie das Projekt zeigt. Natürlich fallen das Pornographisch-Erotische sowie das Exkrementelle ebenfalls unter den Dachbegriff des Obszönen: So können normative Figuren wie ein Pfarrer oder eine Nonne, indem sie lüstern, unsittlich und schamlos agieren, zu obszön handelnden Figuren werden. Doch neben den triebhaft Handelnden gibt es auch Figuren, die per se als obszöne Figuren gelten: Ein Narr, ein Wahnsinniger, ein Homosexueller, ein Hermaphrodit, ein Mensch mit Behinderung, ja sogar eine gebildete Frau ‒ sie alle zählen zu diesen ‚Anderen‘, die ebenfalls triebgesteuert handeln können, sich aber bereits durch ihre bloße Existenz von der fromm-bürgerlichen Norm unterscheiden. Auffällig ist dabei, dass den obszönen und den obszön handelnden Figuren das Körperliche, das Scham oder Ekel hervorruft, gleichermaßen eignet. Neben dem Sexuellen und Skatologischen lassen sich somit auch die Ebenen des Abstoßenden, Diversen, Hässlichen, Grotesken, Lächerlichen usf. unter dem Obszönen fassen.

Angeschlossen an das Projekt „Arts of Memory“ des Exzellenzclusters, werden ebenfalls Themen der Bildlichkeit, Text-Bild-Bezüge und unterschiedliche Medien im Fokus des Projekts stehen, denn als obszön gebrandmarkten Schriften wurden häufig gemeinsam mit mehr oder minder schlüpfrigen (Titel-)Holzschnitten veröffentlicht. Damit öffnet das Projekt zum einen die (künstlich) gesetzte Schranke zwischen den verschiedenen Medien und lässt die interdisziplinäre Vernetzung von Literatur in den Fokus rücken; zum anderen eröffnet dieses Vorgehen die Möglichkeit, individuelle und kollektive Erinnerung, die stets von Medien geprägt und daher nicht neutral ist, unter einem bisher vernachlässigten Gesichtspunkt zu untersuchen: dem Obszönen.

Einrichtungen

Freie Universität Berlin
Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften; EXC 2020 „Temporal Communities“ / Friedrich Schlegel Graduiertenschule Freie Universität Berlin

Forschungsgebiete

Literatur der Frühen Neuzeit (14. und 15. Jh.), Literatur des 16. Jahrhunderts
Text-Bild-Beziehungen; Intermedialität; ars memorativa
Beitrag von: Luca Lil Wirth
Datum der Veröffentlichung: 29.11.2021
Letzte Änderung: 29.11.2021