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XV. IVG-Kongress 2025: Holocaust-Gedächtnisforschung und aktuelle identitätspolitische Diskurse. Repräsentationen von Ausgrenzung und Gewalt in der Gegenwartsliteratur (Graz)

Beginn
20.07.2025
Ende
27.07.2025
Deadline Abstract
30.11.2022

Internationale Vereinigung für Germanistik – IVG-Kongress in Graz 20.-27.7.2025

Sektion 

Holocaust-Gedächtnisforschung und aktuelle identitätspolitische Diskurse. Repräsentationen von Ausgrenzung und Gewalt in der Gegenwartsliteratur

Organisatoren: Linda Maeding (Bremen), Marko Pajević (Tartu), Rosa Pérez Zancas (Barcelona)

Gedächtnis und Erinnerung bestimmen seit dem Zivilisationsbruch Auschwitz (Dan Diner) den literarischen Diskurs über den Holocaust. Allerdings hat das Erinnerungsparadigma seit den neunziger Jahren tiefgreifende Umwandlungen erfahren. Zum einen aufgrund einer Vielzahl von Texten, oftmals von Frauen verfasst, die (Familien-)Geschichten transgenerationell weiterschreiben und damit die autobiographische Auseinandersetzung der direkten Zeugen ablösen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts sind es vornehmlich die Kinder, Enkel und Urenkel der Zeitzeugen, die den Genozid aus einer neuen Perspektive literarisch verarbeiten. Marianne Hirsch prägte 1997 dafür das Wort Postmemory, dem sogenannten Nach-Gedächtnis, das „eine intensive und besondere Form des Gedächtnisses [ist], weil seine Verbindung zum Objekt des Gedächtnisses nicht durch Erinnern, sondern durch imaginierte Beteiligung und Phantasie vermittelt“ werde. Womit Postmemory „die Erfahrung derjenigen [bezeichne], deren eigene verspätete Geschichten ausgehöhlt werden durch die Geschichten der vorangegangenen Generation, durch traumatische Erfahrungen, die weder verstanden noch nachgestellt werden können.“ (Hirsch 1997, 22). Zum anderen aber verändern neue Konzepte der Gedächtnisforschung – allen voran die im deutschsprachigen Raum intensiv und polemisch diskutierte Übersetzung von Michael Rothbergs Multidirectional Memory (2009, dt. 2021) –auch die Perspektive auf das Holocaust-Gedenken, indem sie es in einen weiteren zeitgeschichtlichen Horizont der Erinnerung an Gewaltverbrechen einbetten, ohne dadurch den durch die Nationalsozialisten verübten Genozid relativieren zu wollen. Rothberg plädiert stattdessen dafür, Erinnerung nicht durch „Opferkonkurrenzen” zu belasten und tritt für eine von gegenseitiger Anerkennung geprägte Erinnerungskultur ein, aus der weiterführende Forschungsansätze entspringen können.

Auf diese Weise lebt das Holocaust-Gedächtnis fort und wird transgenerationell weitergeformt, indem es „Spuren“ (Levinas/Derrida) hinterlässt: Das nicht mehr Anwesende ist dennoch gegenwärtig, häufig gerade als Leerstelle, und prägt weiterhin die nachfolgenden Generationen, die sich nun mit den sich fortsetzenden Traumata auseinandersetzen. Die Art, wie wir über Traumata sprechen, welche Diskurse dazu geschaffen werden und wie wir sie folglich erinnern, werden darüber entscheiden, welche Form dieses Leiden und dieser Unfrieden in den kommenden Jahrzehnten annehmen werden. Wir erleben seit einigen Jahren eine mächtige Entwicklung hin zu identitätspolitischen Opferdiskursen, die auf zum Teil lang vergangenem Unrecht und bis heute in der einen oder anderen Form andauernder Diskrimination aufbauen. „Race“, Gender und auch nationale Kategorien/Identitäten erhalten wieder mehr Gewicht. In diesem diskursiven und theoretischen Kontext widmet sich die Sektion zeitgenössischen Opferkonstellationen, -narrativen und -figuren in der deutschsprachigen Literatur, deren Darstellung und Bearbeitung wir im Lichte der Holocaust-Nachgeschichte und insbesondere des Holocaust-Gedächtnisses lesen. Oft ist diese Lektüre, die den Holocaust miteinbezieht, schon von den Autorinnen und Autoren vorgegeben, sei es explizit oder implizit. In anderen Fällen ist es Aufgabe der Literaturwissenschaft, diese Linien zu ziehen und Rothbergs Forderung auf die Probe zu stellen, wir bräuchten heute im Rahmen des Holocaust-Diskurses den Vergleich mit anderen Gewaltgeschichten. Die Stimmen aus der Migrationsliteratur der zweiten und dritten Generation, die Geschichten von neu in deutschsprachigen Ländern angekommenen Geflüchteten, aber auch beispielsweise die literarische Aufarbeitung der NSU-Morde müssen hier noch situiert werden. Diese „Spuren“ wollen wir identifizieren, benennen und kritisch einordnen in einem Feld, das besonders exponiert ist für Politisierung und Polarisierung, und dabei die Erkenntnisse der jahrzehntelangen Beschäftigung der Forschung mit dem Holocaust-Gedächtnis auf ihre Anwendbarkeit auch auf andere Geschichten prüfen.

Für die Literaturwissenschaft bedeutet die auch durch die postkolonialen Studien vorangetriebene Diversifizierung der Gedächtnisforschung und Erinnerungskulturen in der Folge des Holocaust, dass es Zeit wird für eine erste Bestandsaufnahme: An welche Traditionen, welche Topoi und Metaphern, welche kanonischen Figuren knüpft die neuere „Opferliteratur“ an? Wie thematisieren heutige Texte die durchaus problematische Figur des Opfers im Spannungsfeld zu Ermächtigungsdiskursen oder grenzen sich von ihr ab, diskursiv und poetologisch? Welche Prätexte und welche Schreibweisen erweisen sich ausgehend von intertextuellen Lektüren als fruchtbarer Boden? Welche Erinnerungsbestände werden in diesem Zusammenhang überhaupt aufgerufen? Die Erkenntnisse der Holocaust-Gedächtnisforschung der letzten Jahrzehnte sollen in dieser Sektion nutzbar gemacht werden für heutige Diskurse und Problemkonstellationen im Zusammenhang mit traumatischer Erinnerung und Überlieferung. Was und wie erinnern wir und welche literarischen Formen werden dafür entwickelt? Was bleibt und was setzt sich fort? Welche Vergangenheit ist gegenwärtig, aus welchen Gründen und mit welchen Auswirkungen? 

 

Auswahlbibliographie:
Appiah, Kwame Anthony: Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit. München: Hanser 2019. Conrad, Sebastian: „Erinnerung im globalen Zeitalter: Warum die Erinnerungsdebatte gerade explodiert“. Merkur, Heft 867 (August 2021), 5-17. Henke, Daniela/Vanassche, Tom (Hg.): Ko-Erinnerung. Grenzen, Herausforderungen und Perspektiven des neueren Shoah-Gedenkens. Berlin: De Gruyter 2020. Fischer, Torben/Hammermeister, Philipp/Kramer, Sven (Hg.): Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Amsterdam/New York: Rodopi 2014. Göttsche, Dirk: „Memory Studies“. In: Göttsche, Dirk/ Dunker, Axel/ Dürbeck, Gabriele (Hg.): Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: Metzler 2017, 114-121. Hirsch, Marianne: Family Frames – Photography, Narrative and Postmemory. Cambridge 1997. Hirsch, Marianne: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust. New York: Columbia University Press 2012. Rothberg, Michael: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Globalization. Stanford: Stanford UP 2009 (dt. 2021). Terkessidis, Mark: Wessen Erinnerung zählt?: Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute. Hamburg: Hoffmann und Campe 2021

Vortragstitel und Abstract (200 bis 300 Wörter) werden bis zum 30. November 2022 an alle drei Panel-Organisator*innen erbeten:
Linda Maeding: maeding@uni-bremen.de 
Marko Pajević: marko.pajevic@ut.ee
Rosa Pérez Zancas: rosaperezz@ub.edu

Eine Veröffentlichung in einem Sammelband mit einem renommierten peer-review Verlag ist geplant.

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literatur des 21. Jahrhunderts
Holocaust; Erinnerung

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XV. IVG-Kongress 2025
Datum der Veröffentlichung: 16.09.2022
Letzte Änderung: 16.09.2022