Workshop "Formen des Erinnerns in der Frühen Neuzeit" (Wien, 07.11.2025)
Literarische Formen bringen ihre jeweils eigenen Formen des Erinnerns hervor. Dies gilt nicht nur insofern, als die Erinnerung an ein Ereignis durch die Art der medialen Repräsentation bestimmt wird. Vielmehr haben literarische Texte eine zeitliche Verlaufsform, die den Prozess des Erinnerns während der Rezeption steuert und gestaltet. Narrative Texte setzen aufgrund der ihnen eigenen Teleologie eine andere Form des Erinnerns voraus als etwa die Lyrik, die meist einzelne Augenblicke aus dem Lauf der Zeit herauslöst. Die Komödie mit ihrer episodischen Struktur und ihrem glücklichen Ende wiederum lädt strukturell und thematisch zum Vergessen ein, während die Tragödie oft gerade auf der Unmöglichkeit des Vergessens und Vergebens beruht. Dies sind nur einige Beispiele dafür, dass literarische Formen das Erinnerungsvermögen der Rezipientinnen und Rezipienten prägen und zur Einübung mnestischer Praktiken beitragen, die nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine fundamentale kulturelle Bedeutung besitzen.
Die frühe Neuzeit stellt für die Frage nach literarischen Formen des Erinnerns insofern eine entscheidende Schwelle dar, als hier zahlreiche Faktoren zusammenkommen, die nachhaltig auf die Ökonomie des kulturellen Gedächtnisses einwirken. Der Buchdruck erweitert die Menge des Wiss- und Lesbaren quantitativ, wirkt durch eine stärkere Verräumlichung des Gedächtnisses aber auch qualitativ auf Erinnerungspraktiken ein (L. Bolzoni). Zur Entgrenzung des Wissens tragen auch die rinascimentale Pluralisierung des Wahrheitsbegriffs (K. Hempfer) und die Konfrontation mit dem ‚Neuen‘ im Zug der europäischen Expansion bei. Zuletzt setzt in der Frühen Neuzeit eine Neuordnung des Verhältnisses von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont ein (R. Koselleck), die nicht ohne Folgen für den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bleibt. Von diesen medialen, epistemologischen und kulturellen Entwicklungen sind auch die literarischen Formen des Erinnerns in der Frühen Neuzeit nicht zu trennen.
Der geplante Workshop kombiniert ein dreifaches Interesse an Strukturanalyse, Wirkungsästhetik und Kulturwissenschaft. Er zielt darauf ab, literarische Werke und andere ästhetische Objekte aus unterschiedlichen Bereichen der frühneuzeitlichen Kultur ins Auge zu fassen und eine vergleichende Analyse der dadurch induzierten Erinnerungsformen anzustoßen. Mögliche Fragestellungen umfassen (ohne darauf begrenzt zu sein):
- Welchen Formkonstituenten literarischer Texte kommt eine mnestische Relevanz zu? Auf welchen Ebenen sind diese Formelemente angesiedelt?
- Korrelieren bestimmte frühneuzeitliche Gattungen mit bestimmten Formen des Erinnerns? Wie stabil ist diese Korrelation?
- Wie werden Erinnerungsprozesse im Lauf der Rezeption durch die Form eines Textes (oder anderer Zeichenkomplexe) gesteuert? Wie lässt sich die wirkungsästhetische Bedeutung mnestischer Symbolstrukturen beschreiben?
- Welche Affekte haben in der Frühen Neuzeit eine besondere erinnerungsstiftende Funktion? Wie werden diese Affekte in den jeweiligen Texten evoziert?
- Welche Rolle spielen mediale Faktoren für das Erinnern beim Lesen im Kontext des frühen Buchdrucks?
- In welchen dichtungstheoretischen Diskursen werden literarische Formen des Erinnerns thematisiert? Wie verhalten sich poetologische Reflexion und poetische Praxis zueinander?
- Welche allgemeineren kulturellen Erinnerungsproblematiken werden in der Frühen Neuzeit virulent? Wie wirken diese Problematiken auf etablierte Formen literarischen Erinnerns? Welche neuen Formen werden dadurch hervorgebracht?
Der Workshop findet am Freitag, 7. November 2025 am Institut für Romanistik der Universität Wien statt. Der CfP richtet sich an Personen in der Promotions- und Postdoc-Phase aus allen philologischen und kulturwissenschaftlichen Fächern. Gebeten wird um die Einsendung eines Abstracts von etwa 500 Wörtern und einer akademischen Kurzvita bis spätestens zum 4. April 2025 (an Dr. Manuel Mühlbacher, manuel.muehlbacher@univie.ac.at).