CfP/CfA Veranstaltungen

Verletzbarkeit. Strukturelle Gewalt und Affekte in der Literatur

Beginn
20.04.2023
Ende
22.04.2023
Deadline Abstract
15.08.2022

Call for Papers

Internationale Tagung: Verletzbarkeit. Strukturelle Gewalt und Affekte in der Literatur

20.–22. April 2023, Universität Zürich

Organisation: Dr. Aglaia Kister (Universität Bern) und Dr. des. Cornelia Pierstorff (Universität Zürich) 

Der Begriff der Vulnerabilität hat Konjunktur. Während der Covid 19-Pandemie stand der Schutz ‚vulnerabler Personengruppen‘ zumindest rhetorisch im Zentrum der politischen Maßnahmen. Allerdings beschränkt sich die Begriffsverwendung keineswegs darauf, eine bestimmte physische Disposition und Anfälligkeit für Krankheiten zu bezeichnen. Ursprünglich aus der Medizin stammend, nimmt ein Konzept von Verletzbarkeit mittlerweile in den verschiedensten Disziplinen – der Armuts- und Katastrophenforschung, der Entwicklungspolitik, den Umweltwissenschaften, der Psychiatrie, der Philosophie und der Soziologie – eine Schlüsselstellung ein (vgl. Meißner 2019). Akzentuiert werden dabei ganz unterschiedliche Aspekte: etwa die Anfälligkeit von Ökosystemen für Störungen, die Fragilität gesellschaftlicher Ordnungen oder auch die existenzielle Angewiesenheit aller Menschen auf soziale Anerkennung und materielle Versorgung. Verletzbarkeit führt also vom einzelnen Akt der Verletzung weg und hin zu einer strukturellen Dimension von Gewalt. Während die Literatur immer schon, in den letzten Jahren aber bevorzugt von vulnerablen Figuren erzählt, hat die Literaturwissenschaft erst in jüngster Vergangenheit begonnen, sich systematisch mit dem Phänomen zu beschäftigen (Meißner 2019; Lignereux et al. 2020; Masschelein 2021). Was dabei bislang keine genauere Betrachtung gefunden hat, ist das Verhältnis zwischen Verletzbarkeit und Affekten. Dass wir nicht rein rational auf die Welt reagieren, sondern mit Scham, Freude, Angst, Liebe, Wut oder Trauer, macht uns – wie bisher vor allem aus philosophischer und psychologischer Perspektive aufgezeigt wurde – verwundbar (Mackenzie 2014; Aktas 2020; Schmidsberger 2022). 

Insbesondere dem deutschsprachigen Pendant der Vulnerabilität, der Verletzbarkeit, wurden in der Theoriebildung verschiedentlich Vorbehalte entgegengebracht: Der Begriff sei negativ konnotiert, er sei zu stark an den Körper gebunden und damit zu wenig abstrakt, er schreibe Opferpositionen fest. Wie der Eintrag zum Adjektiv ‚verletzbar‘ im Grimm’schen Wörterbuch belegt, führt der Begriff jedoch bereits in seiner historischen Semantik genau die Aspekte zusammen, die im Zentrum der Tagung stehen sollen: Er beinhaltet erstens das Problem von Agency; zweitens geht es mit ihm um eine strukturelle Dimension von Gewalt; drittens ist er immer mit Affekten verbunden. Während der Begriff ‚verletzbar‘ heute ausschließlich passiv verstanden wird, unterscheidet das Wörterbuch noch eine aktive – verletzbar als „verletzen könnend“ – von einer passiven Bedeutung – verletzbar als „verletzt werden könnend“ (DWB 25, 782). Vielmehr eine Anfälligkeit für Verletzung als einzelne Verletzungsakte sind damit angezeigt, wodurch das Konzept eine Auflösung von Agency andeutet. Mit einer Anfälligkeit für Verletzung geht es aber nicht nur um eine grundsätzliche Möglichkeit verletzt zu werden, sondern vor allem um verschiedene Grade der Wahrscheinlichkeit, Verletzungen ausgesetzt zu sein, und damit um eine strukturelle Dimension von Gewalt. So bezeichnet das Beispiel bei Grimm, der „leicht verletzbar[e]“ Flügel eines Schmetterlings, keinen Körper, dem ein Attribut zukommt, sondern einen Körper in Relation zu einer Umgebung, in der er potenziell Gewalt ausgesetzt ist. Potenziell Gewalt ausgesetzt zu sein bedeutet, affizierbar zu sein. Diese Affizierbarkeit steht in mehr als etymologischer Nähe zu einer affektiven Dimension der Verletzbarkeit. Dass Verletzbarkeit mit Affekten verbunden ist, wenn nicht gar überhaupt zuallererst ein affektiver Begriff ist, behandelt der Eintrag, wenn er die Verletzbarkeit mit der Furcht, verletzt zu werden, engführt. In den Beispielen thematisiert der Beitrag aber auch eine affektive Ebene der Verletzung selbst: Ehre und Stolz können verletzt werden, was mitunter wiederum in affektive Gewaltakte z.B. der Rache umschlägt.

Wenngleich bislang noch eine „general undertheorization of the concept of vulnerability” (Mackenzie 2014) zu verzeichnen ist, kamen in den letzten Jahren vonseiten der phänomenologischen und feministischen Philosophie fruchtbare Forschungsbeiträge (Butler 2012; 2014; 2016; Casale et al. 2011; Waldenfels 2013; Mackenzie 2014; Boublil 2018; Govrin 2022). Besonders im Denken Judith Butlers bildet die Verletzbarkeit einen zentralen Knotenpunkt, an dem ihre Theorien der Anerkennung, der Leiblichkeit und des Widerstands zusammenlaufen (vgl. Pistrol 2016). In Fortführung psychoanalytischer Konzepte und der Philosophie Emmanuel Lévinas’ versteht Butler Menschen als verkörperte, relationale Subjekte, deren Leben von der Erfüllung bestimmter leiblicher Grundbedürfnisse, aber auch von Prozessen sozialer Anerkennung abhängt und die sich deshalb immer schon in einer Situation der Verletzbarkeit befinden. Vulnerabilität wird damit jedoch keineswegs zu einem ahistorischen, gesellschaftsunabhängigen Existenzial verallgemeinert, sondern vielmehr in ihrer Abhängigkeit von spezifischen sozialen und politischen Machtstrukturen untersucht (Butler 2012; 2016). Während Verletzbarkeit traditionell oft mit einer weiblich codierten Form der Hilflosigkeit, Ohnmacht und Angewiesenheit auf paternalistischen Schutz assoziiert wird, betont die gegenwärtige feministische Philosophie verstärkt ihr widerständiges, aufsässiges Potenzial (Butler et al. 2016; Masschelein 2021). Die Anerkennung der eigenen Vulnerabilität und die Verabschiedung vom maskulinen „Phantasma der Unverwundbarkeit“ (Casale et al. 2011) erscheint als vielversprechender Ausgangspunkt für eine gewaltfreie Kritik sozialer Ungerechtigkeit und politischer Machtverhältnisse. Obgleich Verletzbarkeit einerseits eine Grundkonstante allen menschlichen Lebens bildet, hängt ihr Ausmaß andererseits entscheidend davon ab, welcher sozialen, politischen oder ethnischen Gruppe ein Individuum angehört (Butler 2012). Daher führt das Nachdenken über Vulnerabilität zu Fragen struktureller Gewalt, bei denen nicht länger die brutalen Akte einzelner Personen im Fokus stehen, sondern subtilere Mechanismen der Machtausübung, Diskriminierung und Unterdrückung. Diese entbinden zumeist auch starke affektive Energien: etwa Scham über mangelnde Anerkennung oder Wut angesichts von Erfahrungen struktureller Gewalt. Dass die affektive Ebene der Vulnerabilität auch noch aus anderen Gründen durch und durch politisch ist, darauf macht Sara Ahmed (2004) aufmerksam. Als politisches Mittel der Affektsteuerung, das nicht notwendig mit einer realen Gefährdung korreliert, kann sie wiederum ausgerechnet strukturelle Gewalt befördern. Vulnerabilität ist somit ein prekäres Konzept.

Der Gegenbegriff zur Verletzbarkeit, der sich in der neoliberalen Leistungsgesellschaft großer Beliebtheit erfreut, ist ‚Resilienz‘ – die Fähigkeit eines Menschen, sich gut an Krisensituationen anpassen und sie auf diese Weise schnell bewältigen zu können. Ursprünglich entstammt das Konzept der Werkstoffphysik und bezeichnet dort die Fähigkeit elastischer Materialien, nach Verformungen durch äußere Einwirkungen wieder die Anfangsform zurückzugewinnen. Andreas Reckwitz hat auf verschiedene Problematiken hingewiesen, welche die Übertragung des Resilienz-Ideals auf Gesellschaften birgt: Wo es vor allem um Anpassungsfähigkeit und die Wiederherstellung des Ausgangszustands vor der Krise gehe, bleibe kein Raum für Entwicklung, Veränderung und Kritik an problematischen Gesellschaftsstrukturen. Zudem befördere das Streben nach Resilienz eine „regelrechte Verpanzerung des Subjekts“ gegen Gefühle, da diese stets „sehr angreifbar machen“ (Reckwitz 2021, 53). Während Resilienz mit Widerstandsfähigkeit und Immunität assoziiert ist, bezeichnet ‚Verletzbarkeit‘ eine Affizierbarkeit und Berührungsoffenheit gegenüber der Welt. Bezeichnenderweise wird das Ideal der Resilienz bevorzugt von der Positiven Psychologie lanciert – einer Theorieschule, die schon lange im Verdacht steht, strukturelle Probleme der neoliberalen Gesellschaft auszublenden und die Verantwortung für das Wohlbefinden allein dem Individuum aufzubürden (Cabanas/Illouz 2019). Theorien der Vulnerabilität richten das Augenmerk demgegenüber auf jene Machtverhältnisse und sozialen Bedingungen, welche die ihnen unterworfenen Subjekte allererst verletzbar machen. Auch die geplante Tagung versteht Verletzbarkeit weniger als kontingentes Attribut einzelner Figuren, sondern vielmehr als Sediment struktureller Gewalt.

Während die Theoriebildung in Philosophie und Soziologie Vulnerabilität erst seit Kurzem verstärkt thematisiert und zu konzeptualisieren versucht, wird sie in der Literatur immer schon als komplexes Geflecht aus struktureller Gewalt und Affekten zur Darstellung gebracht. Das ist nicht verwunderlich, denn zum einen ist die Literatur ebenso wie die Kunst allgemein ein Laboratorium der Affekte (exemplarisch Krause-Wahl et al. 2006; Koppenfels/Zumbusch 2016; Wehr/Blake 2017; Fleig/von Scheve 2020), zum anderen bildet sie einen bevorzugten Ort der Reflexion von Gewalt (exemplarisch Kristeva 1978; Wertheimer 1986; Meumann/Niefanger 1997; Brockmeier/Fischer 1998; auf der Horst 2013). Für den Zusammenhang von struktureller Gewalt und Affekten bietet die Literatur deshalb einen privilegierten Zugang, weil Gewalt dort unweigerlich eine strukturelle und zugleich eine affektive Dimension besitzt. Indem literarische Texte Zusammenhänge stiften und Verletzbarkeit auf diese Weise nicht einfach darstellen, sondern konfigurieren, fungieren sie im besten Sinn als Erkenntnismedium. 

Erste Übertragungen des vornehmlich soziologischen Konzepts der Vulnerabilität auf literatur- und kulturwissenschaftliche Kontexte eruieren entweder seine Tragfähigkeit in einer historischen Dimension (Bowden et al. 2020; Lignereux et al. 2020) oder fokussieren die Verletzbarkeit als Eigenschaft literarischer Figuren vor dem Hintergrund verschiedener Diskurse der Vulnerabilität (exemplarisch Feichtenschlager 2016; Godden/Mittman 2019; Kauer 2009; Meißner 2019). Die genauere Untersuchung, inwiefern Konfigurationen von Verletzbarkeit in der Literatur den Blick auf einen Zusammenhang von struktureller Gewalt und Affekten freigeben, stellt hingegen ein Desiderat dar. Wenn sich die Tagung diesem Zusammenhang widmet, dann unternimmt sie nicht nur den Versuch, den Begriff der Verletzbarkeit ästhetisch zu vermessen, sondern stellt letztlich die Frage nach Form und Darstellbarkeit von Gewalt sowie nach dem Einsatzpunkt der Affekte. 

Dem konstitutiven Zusammenhang von struktureller Gewalt und Affekten in literarischen Konfigurationen der Verletzbarkeit will sich die Tagung in dreierlei Hinsicht nähern. Erstens interessieren wir uns für verschiedene Aspekte der Verletzbarkeit, die die strukturelle und die affektive Dimension erschließbar machen: Was sind die relevanten Strukturen, die Gewalt formen und auf welche Weise werden sie in der Literatur reflektiert? Wie spielen Race, Class und Gender sowie andere soziale Ordnungskategorien zusammen? Welche Affekte machen strukturelle Gewalt sichtbar und erfahrbar? Gibt es bestimmte Genres oder ästhetische Verfahren, die eine besondere Affinität zur Verletzbarkeit besitzen? Zweitens wollen wir nach den Akten der Verletzbarkeit fragen: Wie setzt Verletzbarkeit Akte und Strukturen der Gewalt in Beziehung? Auf welche Weise führen die Affekte von Struktur zu Akt und umgekehrt? Wie perspektiviert Verletzbarkeit eine Vorstellung von Agency und welche Konsequenzen hat das für die Bewertung und den Umgang mit Gewalt? Drittens soll es um die Ambivalenzen der Verletzbarkeit gehen, und zwar auf eine doppelte Weise: Inwiefern besitzt Literatur und allgemein Kunst ein besonderes Sensorium für die Ambivalenzen struktureller Gewalt? Wie reflektiert sie die spezifische Epistemologie so genannter Mikroaggressionen? Inwiefern weist das Konzept selbst Ambivalenzen auf, die der von Andreas Reckwitz analysierten „Dialektik der Sensibilität“ (Reckwitz 2019) gleichen? Birgt das Insistieren auf der eigenen Verletzbarkeit auch die Gefahr, seinerseits eine aggressive, verletzende Kraft zu entfalten?

Die Tagung nimmt mit der Verletzbarkeit den Zusammenhang von struktureller Gewalt und Affekten in den Blick und möchte damit einen Beitrag zur literarischen Gewaltforschung sowie zu den literarischen Affect Studies leisten. Willkommen sind Beiträge, die sich einer Ästhetik der Verletzbarkeit aus literatur- und kulturtheoretischer Perspektive nähern, um den Zusammenhang von struktureller Gewalt und Affekten systematisch zu explorieren. Andererseits sind insbesondere Einzelstudien erwünscht, die Konfigurationen der Verletzbarkeit in Texten der deutsch- oder englischsprachigen Literatur analysieren. Darüber hinaus sind auch komparatistische Beiträge zu anderen Literaturen oder Medien denkbar. Vorträge können auf Deutsch oder Englisch gehalten werden. Vorschläge für 30-minütige Vorträge (max. 350 Wörter) und ein kurzer wissenschaftlicher CV sind bis zum 15.08.2022 erbeten an: aglaia.kister@unibe.ch und cornelia.pierstorff@ds.uzh.ch. 

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literaturtheorie, Gender Studies/Queer Studies, Postkoloniale Literaturtheorie, Ecocriticism, Interdisziplinarität, Literatur und andere Künste, Literatur und Psychoanalyse/Psychologie, Literatur und Soziologie, Literatur und Kulturwissenschaften/Cultural Studies, Ästhetik

Ansprechpartner

Einrichtungen

Universität Zürich
Deutsches Seminar
Beitrag von: Cornelia Pierstorff
Datum der Veröffentlichung: 30.06.2022
Letzte Änderung: 30.06.2022