CfP/CfA Publikationen

Sammelband: „Temporäre Fetzen? Die verschiedenen Enden des langen 19. Jahrhunderts in (Kriegs)-Narrativen der literarischen Moderne“

Deadline Abstract
12.05.2021
Deadline Beitrag
30.11.2021

(CFP) Sammelband: „Temporäre Fetzen? Die verschiedenen Enden des langen 19. Jahrhunderts in (Kriegs)-Narrativen der literarischen Moderne“

Hg. von Torsten Voß und Cornelius Mitterer

Die Herausgeber laden herzlich ein, Themenvorschläge zum geplanten Sammelband einzureichen.

Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs hat die Koordinaten ästhetischer und sozialer Wahrnehmung grundlegend verschoben – 1918 war die Lebenswelt der Belle Epoque endgültig verabschiedet, der Zusammenbruch dynastischer Konstruktionen auch militärisch besiegelt. (Brittnacher 1999, S. 189).

 

Der von Reinhart Koselleck für die Moderne attestierte Zusammenfall von synchroner und diachroner Zeitwahrnehmung, für welchen in den Kulturwissenschaften vermehrt die einschneidenden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und seiner literarischen Verarbeitung in Anspruch genommen werden (Honold 2015), korrespondiert mit der Unvereinbarkeit der Betrachtung von Zeit zwischen objektiver Verifizierbarkeit und subjektiver Wahrnehmung. Während und nach der Urkatastrophe, die das „lange 19. Jahrhundert” (Hobsbawm, Kocka) beendete, stand man „vor einem Novum, also vor einem zeitlichen Minimum, das sich zwischen Vorher und Nachher generiert. Das Kontinuum von bisheriger Erfahrung zur Erwartung des Kommenden wird durchbrochen und muß sich neu konstituieren. Es ist dieses zeitliche Minimum von unumkehrbarem Vorher und Nachher, das die Überraschungen in unseren Leib hineintreibt“ (Koselleck 2003, S. 23).

Für dieses gedoppelte und dennoch in sich diametrale Zeitverständnis gilt es in der europäischen Literatur narrative Äquivalente auszumachen. Interessanterweise setzt dieser beschriebene Wechsel des Zeitbewusstseins in der französisch-, italienisch- und englischsprachigen Literatur schon früher ein als um 1914/1918. Während sich in der deutschsprachigen Literatur erst durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs eine literarisch produktive Aufbereitung neuer Destruktions- und Relativierungserfahrungen von temporärer Kontinuität (und räumlicher Ganzheit) durchsetzt, findet derlei ansatzweise schon in der Rezeption des Kriegs von 1870/1871 in Frankreich (Bloy, Maupassant, Zola), des italienischen Risorgimento (Lampedusa) und des amerikanischen Sezessionskriegs von 1861–1865 (Bierce, Faulkner) statt.

Das Erzählverfahren der Simulepse fungiert als möglicher Applikations- und Überprüfungsmodus für die unterschiedlichen Zeitperspektiven (Lahn/Meister 2016, S. 147). Das Erzählen von Situationen, die gleichzeitig geschehen (bzw. von zeitgleich ablaufenden Handlungen), nähert sich dieser Transtemporalität quasi an und damit einem relativierten Verständnis von linearer Zeitlichkeit. Eine solche Verschiebung in der Wahrnehmung erfordert mit Blick auf die Fragestellung des Sammelbands eine Aufsprengung der Gattungs- und Textform selbst, so dass auch faktuale Erzählungen des Krieges oder anderer moderner Erfahrungsräume integriert werden können. Daraus ergibt sich ein Korpus verschiedener Fragestellungen, etwa:

  • Wie reagieren Autorinnen und Autoren stilistisch, motivisch, imagologisch und narrativ auf die neuen Zeit-Regime (Rosa 2005) von Beschleunigung, Fragmentierung, Eruption, Transtemporalität und Diachronizität?
  • Wie lassen sie in Texten das „lange 19. Jahrhundert” und mit ihm assoziierte Zeit- und Raumkonzepte enden, und wo bzw. wie endet es früher oder später?
  • Welche Auswirkungen haben die diversen Enden auf die ästhetische Gestaltung von Zeit und Zeitempfinden im Text in gattungsübergreifender Perspektive bzw. wie artikulieren sie sich in Versuchen der Gattungshybridisierung (Sommer 2011, 283 ff.)?
  • Kann man Zeit(en) überhaupt noch erzählen?
  • Inwieweit divergieren und konvergieren fiktionales und faktuales Erzählen voneinander?
  • Wie unterscheiden sich die Darstellungen von zeitgenössischen Autorinnen und Autoren von denen aus der Retrospektive agierenden?
  • Wie sind die unterschiedlichen Erzählhaltungen mit Blick auf männliche oder weibliche Performativität zu beurteilen?
  • Wie reagieren (etwa auch ‚neue‘ audiovisuelle) Medien auf Zeitenwechsel und inwieweit werden sie von den Schriftstellerinnen und Schriftstellern vor dem Hintergrund ihrer eigenen (kultur- und wissens-) historischen Dispositive genutzt, thematisiert und narratologisch integriert? Entstehen dadurch bereits Frühformen des „transmedialen Erzählens” (Mahne 2007; Söller-Eckert 2017)?

Diese Fragen sind im Sammelband insbesondere aus Perspektive der vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaften zu diskutieren, um die verschiedenen (literarischen) Enden des „langen 19. Jahrhunderts“ in Deutschland, Frankreich, England, Italien und den Vereinigten Staaten zu veranschaulichen.

Die angedachten Schriftstellerinnen und Schriftsteller (u.a. Ida Boy-Ed, Ernst Jünger, Berta Zuckerkandl-Szeps, August Stramm, Erich Maria Remarque, Thea von Harbou, Walter Benjamin, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Joseph Roth, Claire Goll, Alexander Lernet-Holenia, Robert Musil, Ina Seidel, Léon Bloy, Maupassant, Zola, Charles Péguy, Bernanos, Céline, Siegfried Sassoon, Ambrose Bierce, William Faulkner, Gabriele D’Annunzio, Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Cesare Pavese etc.) stellen sich selbst dieser Darstellungsproblematik bzw. machen sie, aufgrund der durch moderne Massenkriege veränderten Wahrnehmungsmodalitäten von Zeit, zum Gegenstand literarischer Reflexion. So sind komparatistische Akzente angebracht und erwünscht, denn „das Angebot verschiedener Zeitschichten erlaubt es, verschiedene Wandlungsgeschwindigkeiten zu thematisieren, ohne in die Scheinalternative linearer oder kreisläufiger Zeitverläufe zu verfallen“ (Koselleck 2003, S. 26), was eben auch einen ästhetisch-narrativen Bruch mit den teleologisch-kontinuierlich angelegten Temporalitäten des „langen 19. Jahrhunderts“ impliziert.

 

Abstracts zu den dargelegten Fragestellungen (und gerne auch zu weiteren, thematisch passenden) senden Sie bitte inklusive bio-bibliographischer Angaben im Gesamtumfang von ca. 400 Wörtern bis zum 12.05.2021 an die E-Mailadressen beider Herausgeber:

 

Torsten Voß: tovoss@uni-wuppertal.de

Cornelius Mitterer: cornelius.mitterer@univie.ac.at

 

Sie erhalten bis zum 31.05.2021 Bescheid, ob der Beitrag angenommen ist. Die Abgabe der fertigen Aufsätze (max. 35.000 Zeichen inkl. Leerzeichen) soll bis zum 30.11.2021 erfolgen.

 

Literaturhinweise

  • Klaus Amann (Hg.): Österreich und der Große Krieg 1914 – 1918, Wien 1989.
  • Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt am Main 1981.
  • Hans Richard Brittnacher: „Priester und Paria. Der Offizier in der Literatur des Fin de siècle“, in: Ursula Breymayer/Bernd Ulrich/Karin Wieland (Hgg.): Willensmenschen. Über deutsche Offiziere, Frankfurt am Main 1999, S. 189-207.
  • Der Deutschunterricht 4 (2016): Fiktionalität und Non-Fiktionalität.
  • Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, München 1995.
  • Alexander Honold: Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs, Berlin 2015.
  • André Jolles: Einfache Formen, Tübingen 1974.
  • Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1984, zweite Auflage.
  • Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main 2003.
  • Silke Lahn/Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse, Tübingen 2016.
  • Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung, Göttingen 2007.
  • Thomas Mergel (Hg.): Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt am Main 2011.
  • Hartmut Rosa: Beschleunigung.Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005.
  • Claudia Söller-Eckert: „Transmediales Erzählen“, in: Matías Martínez (Hg.): Handbuch Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2017, S. 108 ff.
  • Roy Sommer: „Ausblick: Gattungshybridisierung und Medialisierung des Romans“, in: Matías Martínez (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart/Weimar 2011, S. 283 ff.
  • Matthias von Hellfeld: Das lange 19. Jahrhundert. Zwischen Revolution und Krieg 1776 bis 1914, Bonn 2015.
  • Antonius Weixler/Lukas Werner (Hgg.): Zeiten erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen, Berlin/Boston 2015.
  • Waltraud Wende (Hg.): Krieg und Gedächtnis - Ein Ausnahmezustand im Spannungsfeld kultureller Sinnkonstruktionen, Würzburg 2005.
Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Erzähltheorie, Erzählung, Literatur des 18. Jahrhunderts, Literatur des 19. Jahrhunderts, Literatur des 20. Jahrhunderts
Kriegsnarrative ; Literarische Moderne

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Datum der Veröffentlichung: 12.03.2021
Letzte Änderung: 12.03.2021