Journal of Literary Theory Bd. 20, Nr. 1 (2026): Literaturwissenschaft und/als politisches Engagement (15.07.2025)
Journal of Literary Theory Bd. 20, Nr. 1 (2026)
Themenschwerpunkt "Literaturwissenschaft und/als politisches Engagement" (English version below)
Ecocriticism, so heißt es in einer Einführung, sei "an avowedly political mode of analysis"; in dieser Hinsicht sei er verwandt mit Marxismus und Feminismus (Garrard 2012, 3). Marxismus, Feminismus und Ecocriticism sind aber keineswegs die einzigen Ansätze in der aktuellen Literatur- und Kulturwissenschaft, die sich dezidiert zu einer politischen Agenda und somit auch zu einer normativen politischen Fundierung bekennen. Weitere Beispiele sind Postcolonial Studies, Queer Studies, Critical Race Theory, Disability Studies und Aging Studies. Auch Theorien der Weltliteratur treten häufig mit dem politischen und ethischen Anspruch auf, den 'peripheren' Zonen der Weltliteratur mehr Sichtbarkeit zu verschaffen, und werden daran gemessen, ob sie diesem Anspruch gerecht werden (vgl. etwa Cheah 2014). Begriff und Phänomen der kulturellen Aneignung werden nicht nur in dezidiert politischen Auseinandersetzungen diskutiert, sondern auch in der Literaturtheorie und philosophischen Ästhetik, wie ein Themenheft des British Journal of Aesthetics von 2021 zeigt (vgl. darin etwa Haynes 2021). Politisches Engagement bildet auch vielfach die Grundlage für die Kooperation zwischen Literaturwissenschaft und anderen Disziplinen sowie außeruniversitären Institutionen (vgl. Kim 2022 und die dort vorgestellten Beiträge). Die Prämissen, Verfahren und Ziele politisch engagierter Ansätze sind aber seit einigen Jahren auch Gegenstand einer kritischen Selbstreflexion, in der nach den Verdiensten und Grenzen von Formen der 'Critique' gefragt wird (vgl. Felski 2015; Anker/Felski 2017). Die in diesem Rahmen vorgeschlagenen Alternativen wie 'postcritical reading' sind selbst wieder kritisch mit Blick auf ihre politischen Implikationen diskutiert worden. Von der Intensität dieser Debatten zeugt es, dass eine 2022 erschienene Einführung zu Criticism and Politics sich ausdrücklich als "A Polemical Introduction" präsentiert (Robbins 2022).
Angesichts der Vielzahl solcher politisch und ethisch engagierter Ansätze, die gerade den Geisteswissenschaften neue Verantwortlichkeiten und Potenziale zuschreiben (Levine 2023), und angesichts der Komplexität der von ihnen ausgelösten Debatten möchte das Journal of Literary Theory in dem geplanten Themenheft ein Forum eröffnen, um über grundsätzliche Fragen zum Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft, Literaturtheorie und politischem Engagement (in weitem Sinne) zu reflektieren. Sowohl Forscher:innen, die auf einem der genannten Felder arbeiten, als auch interessierte oder kritische Beobachter:innen dieser Ansätze sind eingeladen, unter anderem Fragen wie die folgenden zu erörtern:
- Worin genau kann und soll der Beitrag der Literaturwissenschaft zu den (im weiten Sinne) politischen Zielsetzungen der verschiedenen Ansätze bestehen?
- Sind die politischen Zielsetzungen problemlos vereinbar mit etablierten epistemischen Standards für Interpretationen und Literaturgeschichtsschreibung? Oder ist das die falsche Frage, weil die engagierten Ansätze diese Standards gerade kritisch hinterfragen und mit "außeruniversitäre[n] Wissensformen" konfrontieren wollen (Kim 2022, 433)?
- Wie verhalten sich solche 'politisch engagierten' Ansätze zu Richtungen der Literaturwissenschaft, die einen Anschluss an empirische Wissenschaften suchen oder die Textinterpretation selbst als 'Erfahrungswissenschaft' konzipieren (vgl. Tepe 2007)?
- Wie oder auf welchen Ebenen bringen sich die politischen und ethischen Werte und Normen zur Geltung: bei der Auswahl der Gegenstände, bei der Interpretation der Texte (und anderer medialer Artefakte), bei ihrer Bewertung oder beim akademischen Sprechen über sie (vgl. Dabashi 2020)?
- Viele im weiten Sinne politisch engagierte Ansätze scheinen spezifischen Literaturbegriffen verpflichtet zu sein, die allerdings oft nicht ausführlich entfaltet werden. Welche Annahmen über die Funktionen von Literatur liegen ihnen zugrunde? Welche Rolle spielen Annahmen über Literatur als Medium dominanter Ideologien oder aber über das subversive Potential von Literatur in aktuellen Ansätzen? Trifft es zu, dass sich ein Großteil der Literatur- und Kulturwissenschaft an der Vorstellung von ideologischen 'Tiefenstrukturen' der Literatur orientiert, die mithilfe einer 'Hermeneutik des Verdachts' freigelegt werden müssen (so Felski 2015)?
- Wie sollte die politische Orientierung von literaturwissenschaftlichen Untersuchungen transparent gemacht werden? Sollte man etwa versuchen, eine politisch neutrale Terminologie von einer normativ aufgeladenen Begrifflichkeit zu trennen – also Begriffe wie 'Adaption' oder 'Kontrafaktur' von einem Begriff wie 'kulturelle Aneignung'? Oder würden solche Versuche ins Leere führen, da sie selbst Ausdruck einer politischen Einstellung sind? Welche aktuellen – fachkulturellen und -übergreifenden – Entwicklungen lassen sich in diesem Bereich nachzeichnen und wie zielführend sind sie?
- Politisch engagierte Ansätze in der Literaturwissenschaft sind, wie die Hinweise auf Marxismus und Feminismus zeigen, keineswegs eine neue Erscheinung; auch an die lange Tradition der Ideologiekritik wäre hier zu erinnern. Allerdings situieren sich manche der einschlägigen aktuellen Ansätze ausdrücklich in einem Moment 'danach': nach der großen Zeit von 'Theory' und 'Critique', nach dem Ende des 'klassischen' Feminismus, nach der 'Entdeckung' des Anthropozäns. Wie groß sind die Kontinuitäten oder Unterschiede zwischen älteren und neueren politischen Ansätzen?
- In welchem Maße sind die politisch engagierten Ansätze durch spezifische nationale Kontexte und Traditionen geprägt? (Vgl. etwa die Überlegungen zur Amerikanistik in den USA in Fluck 2011.)
Wir bitten um die Einreichung der Artikel bis zum 15. Juli 2025 an die E-Mail-Adresse der Redaktion (JLT@phil.uni-goettingen.de). Artikel, die nicht für eines der Schwerpunktthemen bestimmt sind, können jederzeit und völlig unabhängig von den Manuskriptterminen der Hefte eingesandt werden.
Einreichungen werden von unserem internationalen Beirat in einem doppelt anonymisierten Peer-Review-Verfahren begutachtet und für die Publikation ausgewählt.
Weitere Informationen zum Journal of Literary Theory (JLT) sowie zur Einreichung finden Sie auf der Internetseite der Zeitschrift (https://jltonline.de/) oder des Verlages (https://www.degruyter.com/journal/key/jlt/html).
Das JLT veröffentlicht wissenschaftliche Artikel zu Fragen der Literaturtheorie, zur Methodologie der Literaturwissenschaften und zu den Methoden der wissenschaftlichen Interpretation von literarischen Texten. Daneben sind Artikel von Interesse, welche die Geschichte der Fächer erforschen, die mit Literatur befasst sind, und Artikel, welche die Praxis dieser Fächer empirisch untersuchen. Das JLT ist offen für interdisziplinäre Beiträge, die einen Bezug haben zu Literatur und Literaturtheorie, unter anderem aus den Sprachwissenschaften, den Digital Humanities, den Medien- und Kulturwissenschaften sowie der Soziologie, der Philosophie und den Kunstwissenschaften.
Das JLT hat einen dezidierten und exklusiven theoretischen Fokus. Einzelfallstudien werden nicht berücksichtigt. Darunter sind Studien zu verstehen, die einzelnen Autor:innen, literarischen Texten oder literaturgeschichtlichen Problemen gewidmet sind. Auch wenn in solchen Einzelfallstudien theoretische Fragen oder methodische Probleme als Voraussetzung für die eigentliche Untersuchung behandelt und Literaturtheorien in einem gängigen Verständnis 'angewandt' werden, ist das JLT nicht der geeignete Ort für sie.
Literatur
Anker, Elisabeth S./Rita Felski (Hg.), Critique and Postcritique, Durham 2017.
Cheah, Pheng, World against Globe: Toward a Normative Conception of World Literature, New Literary History 45:3 (2014), 303–329.
Dabashi, Pardis, Introduction to "Cultures of Argument". The Loose Garments of Argument, PMLA. Publications of the Modern Language Association 135:5 (2020), 946–955.
Felski, Rita, The Limits of Critique, Chicago 2015.
Fluck, Winfried, Standards und Normen in der Amerikanistik, Journal of Literary Theory 5:2 (2011), 163–166.
Garrard, Greg, Ecocriticism [2004], London/New York 22012.
Haynes, Paul, The Ethics and Aesthetics of Intertextual Writing: Cultural Appropriation and Minor Literature, British Journal of Aesthetics 61:3 (2021), 291–306.
Kim, David D., Einleitung des Gastherausgebers: Was heißt und zu welchem Ende praktiziert man literaturwissenschaftlichen Aktivismus?, Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 66 (2022), 431–435.
Levine, Caroline, The Activist Humanist: Form and Method in the Climate Crisis,Princeton 2023.
Robbins, Bruce, Criticism and Politics. A Polemical Introduction, Stanford 2022.
Tepe, Peter, Kognitive Hermeneutik. Textinterpretation ist als Erfahrungswissenschaft möglich, Würzburg 2007.
Bei Fragen wenden Sie sich bitte an die Redaktion.
JLT – Journal of Literary Theory
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Journal of Literary Theory Vol. 20, No. 1 (2026)
Special Issue "Literary Studies and/as Political Activism"
Ecocriticism is, according to an introduction, "an avowedly political mode of analysis". In this respect, it is said to be related to Marxism and feminism (Garrard 2012, 3). However, Marxism, feminism and ecocriticism are by no means the only approaches in current literary and cultural studies that are explicitly committed to a political agenda and, thus, to a normative political foundation. Other examples include Postcolonial Studies, Queer Studies, Critical Race Theory, Disability Studies, and Ageing Studies. Theories of world literature are also often put forward with the political and ethical ambition to make the 'peripheral' zones of world literature more visible, and they are evaluated with respect to this aim (cf. Cheah 2014). The concept and practices of cultural appropriation are discussed not only in political contexts, but also in literary theory and philosophical aesthetics, as documented by an issue of the British Journal of Aesthetics from 2021 (see, for example, Haynes 2021). Political activism frequently serves as the basis for cooperation between literary studies and other disciplines, as well as non-university institutions (see Kim 2022). However, for some years now, the premises, methods and aims of politically engaged approaches have also been the subject of critical self-reflection, in which the merits and limits of forms of 'Critique' have been called into question (cf. Felski 2015; Anker/Felski 2017). The alternatives proposed in this context, such as 'postcritical reading', have themselves given rise to controversial discussions targeting, among other things, their political implications. The fact that a recent introduction to Criticism and Politics presents itself as "A Polemical Introduction" (Robbins 2022) testifies to the intensity of these debates.
In view of the multitude of such politically and ethically engaged approaches, which attribute new responsibilities and potential to the humanities in particular (Levine 2023), and the complexity of the debates they have provoked, the planned special issue of the Journal of Literary Theory offers a forum to reflect on fundamental questions about the relationship between literary studies, literary theory and political activism (in a broad sense). Scholars working in one of these fields, as well as interested or critical observers of these approaches, are invited to discuss questions such as the following:
- What exactly can and should literary studies contribute to the (broadly defined) political objectives of the various approaches?
- Are the political objectives compatible with established epistemic standards for interpretation and literary historiography? Or is this the wrong question altogether, because the politically engaged approaches seek to criticize these very standards and to confront them with 'non-academic forms of knowledge' (Kim 2022, 433)?
- How do such 'avowedly political modes of analysis' relate to approaches in literary studies that aim for a closer collaboration with the sciences or which conceive of the interpretation of literature itself as an 'empirical science' (cf. Tepe 2007)?
- How or at what levels do political and ethical values and norms come into play: in the choice of objects of study, in the interpretation of texts (and other media artefacts), and in their evaluation or in academic discourse about them (cf. Dabashi 2020)?
- Many approaches that are politically engaged in a broad sense seem to be committed to specific concepts of literature, although these are rarely spelled out. What exactly are these underlying assumptions about the functions of literature? What role do assumptions about literature as a medium of dominant ideologies or about the subversive potential of literature play in current approaches? Is it true that a large part of literary and cultural studies is guided by the idea of ideological 'deep structures' in literary texts, structures that have to be uncovered by means of a 'hermeneutics of suspicion' (Felski 2015)?
- How might the political orientation of literary studies be made transparent? Should we try to separate a politically-neutral from a normatively-charged terminology – i.e., terms such as 'adaptation' or 'parody' from a term such as 'cultural appropriation'? Or would such attempts be theoretically naïve or open to the charge that they are themselves an expression of a political attitude? What current – cultural and interdisciplinary – developments can be traced in this area and how effective or promising are they?
- Politically-committed approaches in literary studies are by no means a new phenomenon, as the above references to Marxism and feminism indicate; one might also think of the 'traditional' critique of ideology. However, some of the relevant current approaches explicitly situate themselves in a moment 'after': after the great era of 'Theory' and 'Critique', after the end of 'classical' feminism, or after the 'discovery' of the Anthropocene. To what extent do these more recent political approaches really go beyondearlier theories and/or modes of critique?
- To what extent are politically engaged approaches shaped by specific national contexts and traditions? (See, for example, the reflections on American Studies in the USA in Fluck 2011.)
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References
Anker, Elisabeth S./ Rita Felski (eds.), Critique and Postcritique, Durham 2017.
Cheah, Pheng, World against Globe: Toward a Normative Conception of World Literature, New Literary History 45:3 (2014), 303–329.
Dabashi, Pardis, Introduction to "Cultures of Argument". The Loose Garments of Argument, PMLA. Publications of the Modern Language Association 135:5 (2020), 946–955.
Felski, Rita, The Limits of Critique, Chicago 2015.
Fluck, Winfried, Standards und Normen in der Amerikanistik, Journal of Literary Theory 5:2 (2011), 163–166.
Garrard, Greg, Ecocriticism [2004], London/New York 22012.
Haynes, Paul, The Ethics and Aesthetics of Intertextual Writing: Cultural Appropriation and Minor Literature, British Journal of Aesthetics 61:3 (2021), 291–306.
Kim, David D., Einleitung des Gastherausgebers: Was heißt und zu welchem Ende praktiziert man literaturwissenschaftlichen Aktivismus?, Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 66 (2022), 431–435.
Levine, Caroline, The Activist Humanist: Form and Method in the Climate Crisis,Princeton 2023.
Robbins, Bruce, Criticism and Politics. A Polemical Introduction, Stanford 2022.
Tepe, Peter, Kognitive Hermeneutik. Textinterpretation ist als Erfahrungswissenschaft möglich, Würzburg 2007.
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