Dörfer Europas. Provinzialität im Spiegel europäischer Gegenwartsliteraturen (Workshop)
Die Provinz hat trotz rückständigem Image Konjunktur – weiterhin ist das Dorf einer der beliebtesten Schauplätze und dezidiertes Thema der Gegenwartsliteratur, und zwar längst nicht nur der deutschen (vgl. Seel 2023: 18). In einer Welt, die immer komplexer und anonymer wird und in der sich zusehends ein Gefühl der Entfremdung einstellt, gewinnen auch in anderen europäischen Literaturen ländlich konnotierte Begriffe wie Heimat, Idylle und Dorf wieder größeres Gewicht und fungieren als „Projektionsfläche urbaner Sehnsüchte“ (Marszałek 2018: 10). Gleichzeitig ist der moderne Mensch immer stärker in die sich öffnende europäische, gar globale Gesellschaft eingebunden und ohne diese kaum noch zu denken. Dies ist nur ein scheinbarer Widerspruch, denn in der Forschung wird immer wieder festgestellt, dass „[g]erade diese scheinbar provinzielle Erzählform […] in ganz besonderem Maße durch Welthaltigkeit“ (Twellmann 2019: 8) geprägt ist, sich also das Große gerade im Kleinen gut erzählen lässt. Das Dorf gilt als literarisch gut darstellbarer Mikrokosmos, an dem sich die zeitgeschichtlichen, gesellschaftspolitischen Themen und Probleme größeren Maßstabs wie unter einem Vergrößerungsglas betrachten lassen (vgl. etwa Stockinger 2020: 298).
An diesen Gedanken lässt sich der auch in der Literaturwissenschaft immer gebräuchlicher werdende Begriff der ‚Glokalisierung‘ anschließen, demzufolge „das Lokale erst als Lokales seine Kontur [gewinnt], wenn es durch umfassendere, übergeordnete – (…) globale – Strukturen herausgefordert wird.“ (Haensler/Heine/Zanetti 2022: 14) Und auch umgekehrt lassen sich diesem Konzept zufolge globale Prozesse nur verstehen, wenn sowohl deren Voraussetzungen als auch Folgen auf lokaler Ebene mitbedacht werden (vgl. ebd.). Außer der globalen lassen sich aber auch andere übergeordnete Strukturen denken, die sich im Lokalen, Provinziellen widerspiegeln können. So überträgt etwa Robert Menasse die lokale Ebene, wenn auch nicht aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, auf die europäische Idee, die er als ein „Europa der Regionen“ (Menasse 2014: 78) versteht. Er benennt die Region als „Herzwurzel der Identität“ (ebd.: 80), die viel größeren Gestaltungsspielraum sowie Projektionsfläche biete als etwa ein Nationalstaat.
Den Konnex von lokalen und „übergeordneten“ Strukturen in der Literatur lohnt es sich also näher zu untersuchen. Das wollen wir in unserem Workshop tun und als übergeordnete Größe Europa in den Blick fassen, indem wir europäische Provinzliteratur betrachten. In Zeiten, in denen Europa und der europäische Zusammenhalt immer wichtiger werden und sich gleichzeitig vermehrt europäische literarische Verhandlungen von Provinzialität nachweisen lassen, wollen wir diese beiden Phänomene zusammenbringen und das literarische Panorama europäischer Dörfer analysieren, um so die übergreifenden „großen Themen“ unserer Zeit herauszuarbeiten und einen vergleichenden Blick auf europäische Verständnisse von Provinzialität zu werfen.
Hier lassen sich allgemeine Leitfragen formulieren wie: Wie lässt sich das Phänomen Dorfliteratur aus gesamteuropäischer Perspektive greifen? Gibt es so etwas wie ein ‚europäisches Dorf‘?
Welche Relevanz hat Provinzialität in einer globalen Welt unter dem Aspekt der europäischen Idee? Welche (thematischen, darstellerischen) Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten lassen sich zwischen Dörfern in unterschiedlichen europäischen Ländern und kulturellen Kreisen beobachten? Wie sind die Querverbindungen, wie werden provinzielle Topografien aus ausländischem Blickwinkel wahrgenommen und literarisch verarbeitet?
Darüber hinaus interessiert uns der Europa-Gedanke selbst. Was macht die (individuelle und kollektive) europäische Identität aus und wie lässt sich das an jeweiligen (literarischen) provinziellen Mikrokosmen ablesen? Spiegeln sich europäische Themen selbst im Dorf, und wenn ja, wie? Inwiefern konstituiert sich Europa insbesondere aus Regionen?
Genauso lässt sich umgekehrt fragen: Zersplittert Europa in Regionen? Der Fokus auf lokale Strukturen erhält durch aktuelle nationalistische Tendenzen in vielen europäischen Ländern eine zusätzliche brisante Akzentuierung, der sich nachzugehen lohnt. Hier lassen sich z.B. die Vereinbarkeit von Regionalität und Europa sowie die Frage, ob eine Hinwendung zum Lokalen den übergeordneten, hier: europäischen Zusammenhang in Frage stellt, kontrovers diskutieren.
Wir erhoffen uns eine vielfältige Diskussion über gegenwärtige europäische Verhandlungen von Provinzialität literarischer oder auch anderer medialer Art. Ziel ist es, die Provinzialität verschiedener Nationen vergleichbar zu machen. Erwünscht sind Analysen aus unterschiedlichen philologischen Richtungen, die wir im Rahmen des Workshops in Kontakt und Zusammenhang bringen wollen. Zeitlich sollen sich die Beiträge auf europäische „Dorfliteratur“ ab dem Jahr 2000 konzentrieren.
Mögliche Beitragsthemen (offene Liste):
- literaturwissenschaftliche, gerne auch interdisziplinär angelegte Beiträge aus unterschiedlichen europäischen Philologien, die Provinzialität und Dörflichkeit verhandeln
komparatistische/vergleichende Ansätze, die verschiedene europäische Literaturen zusammendenken
der deutsche literarische Blick auf ausländische provinzielle Topografien sowie umgekehrt auch der Blick aus dem Ausland auf Deutschlands Dörfer bzw. andere wechselseitige Betrachtungen
vielfältige thematische Ausrichtungen: politische Themen wie Rechtsruck, Nationalismus, Klimakrise, Verhandlung von Europa(-themen) in Provinzliteratur, Glokalisierung usw.
Europa außerhalb Europas: europäische Strukturen in z.B. Dörfern mit kolonialer Vergangenheit
verschiedene (kulturwissenschaftliche) Ansätze wie Ecocriticism, Raumtheorie, Gender Studies, Postcolonial Studies, Food Studies, (post-)migrantische Ansätze in ihrer Anwendung auf literarische Provinzialität
auch medienwissenschaftliche sowie diachrone Vergleichsstudien sind denkbar
Geplant sind 20-minütige Vorträge mit jeweils 20 Minuten sich anschließender Diskussion.
Wir freuen uns auf Themenvorschläge in Form von Abstracts (ca. 500 Wörter) plus kurze biografische Angaben bis 30. Juni 2025 an untenstehende Adressen. Eine Rückmeldung geben wir bis ca. Mitte August 2025.
Der Workshop soll am 26. und 27. Februar 2026 an der Universität Kassel stattfinden; eine Publikation ist für Anfang 2027 geplant.
Kontakt: julia.leitherer@uni-kassel.de // lea.lotterer@uni-kassel.de
Literaturliste
Haensler, Philippe P.; Heine, Stefanie; Zanetti, Sandro: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Literarische Glokalisierung (= Colloquium Helveticum 51). Bielefeld: Aisthesis 2022. S. 13–21.
Marszałek, Magdalena: Einleitung. Das Dorf und die Idylle. In: Yaraslava Ananka, Magdalena Marszałek (Hrsg.): Potemkinsche Dörfer der Idylle. Imaginationen und Imitationen des Ruralen in den europäischen Literaturen. Bielefeld: transcript 2018 (= Rurale Topografien 5). S. 7–17.
Menasse, Robert: Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa. Berlin: Suhrkamp 2014.
Seel, Henri J.: Der Gang aufs Land. Eine Poetologie des Wissens über rurale Räume in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bielefeld: transcript 2023 (= Rurale Topografien 19).
Stockinger, Claudia: Provinz erzählen. Zur Einleitung. In: Zeitschrift für Germanistik 30 (2020). Heft 2: Schwerpunkt: Provinz erzählen. S. 295–305.
Twellmann, Marcus: Dorfgeschichten. Wie die Welt zur Literatur kommt. Göttingen: Wallstein 2019.