CfP/CfA Veranstaltungen

Dimensionen des Transgressiven in Friederike Mayröckers Spätwerk

Beginn
24.10.2020
Ende
25.10.2020
Deadline Abstract
20.02.2020

CALL FOR PAPERS

Dimensionen des Transgressiven in Friederike Mayröckers Spätwerk

Internationale Tagung, Adam-Mickiewicz-Universität Poznań

24.-25. Oktober 2020

Unterstützt u.a. vom Österreichischen Kulturforum in Warschau

Keynotes: Prof. Dr. Inge Arteel (Vrije Universiteit Brussel)

PD Dr. Alexandra Strohmaier (Universität Graz)

Friederike Mayröckers Texte sind von vielfältigen Grenzüberschreitungen durchzogen. Angetrieben von den Impulsen der Avantgarde, reizen sie ästhetische und sprachliche Normen aus, transzendieren Identitäten, Gattungsgrenzen und Textebenen. Die vom Institut für Germanische Philologie der Adam-Mickiewicz-Universität Posen veranstaltete internationale Tagung möchte den Transgressionen in Mayröckers Spätwerk nachgehen.

Folgende Aspekte könnten fokussiert werden:

Die Überschreitung vonGattungsgrenzen: Mayröckers Texte sind mit der traditionellen Gattungstrias nicht mehr zu greifen, Gattungen werden höchstens noch als Leseanweisungen und als intertextuelle Netzwerke aufgerufen, aber nicht mehr als abstrakte Normen oder eigene Großerzählungen respektiert. Die Grenzen der Gattungen unterliegen einer Erosion, althergebrachte Genres werden übereinander geblendet oder hybridisiert. Hier ist das Proëm als Zwitter zwischen Lyrik und Prosa zu nennen, in dessen Gattungspoetik bereits Transgressivität angelegt ist. Die Texte eröffnen so einen transgressiven Raum zwischen den Gattungen, in den die poetologische Reflexion Einlass findet. Diese textuelle Gattungsexzentrizität, welche die literarischen Genres über ihre eigenen Grenzen hinaustreibt, gewinnt in jüngeren Texten wie études, cahier oder fleurs noch einmal eine neue Dimension. Hier wird eine wechselseitige Permeabilität von Lyrik und Prosa inszeniert, deren Textformationen beständig legitimiert bzw. auf ihre gestalterischen Möglichkeiten befragt werden. Gerade in Bezug auf die jüngeren Texte Mayröckers stellt sich die Frage, wie diese Übergänge gattungstheoretisch zu greifen sind.

Die Entgrenzung des Textes: Die Grenzen des Textes werden in Mayröckers Schreibpraxis durch intertextuelle Verschränkungen mit fremden Texten sowie intermediale Bezüge zur bildenden Kunst und Musik verflüssigt. Textfragmente, Bild- und Musikzitate vernetzen sich zu einer polyphonen Textur, sie werden nach dem Zufallsprinzip eingestreut und bilden ästhetische Ballungszonen aus. Mayröckers Inszenierung eines zufallsgeleiteten Schreibens bewegt sich an der Grenze zur Kontingenz und stellt damit den Textbegriff radikal in Frage. In den späten Schriften kommen Formen ‚apokryphen‘ Schreibens als Hinzuschreiben zu den eigenen Texten hinzu, das die Begrenzungen der Texte aufhebt.

Die Entgrenzung der Sprache: Transgressionen werden als Überschreiten von symbolischen Ordnungen wirksam. Mayröckers Schreiben ist in einem steten Prozess der „Deterritorialisierung“ als einer Transzendierung von Sinnordnungen begriffen. Zum einen vollzieht sich eine Entgrenzung der Sprache durch das Freisetzen ihrer Kontingenz, zum anderen durch das Aufbrechen des Regelwerks der Sprache, das die Möglichkeiten der Sinnkonstitution beständig ausweitet. Mayröckers Texte setzen ein Flottieren der Signifikanten frei, das Grenzziehungen unterläuft und sich Konzeptualisierungen verweigert. Dabei wird das transgressive Potenzial literarischer Sprache entfaltet, indem auf der ‚Bühne des Textes‘ fixe Bedeutungen aufgelöst werden. Mayröckers Sprache ist damit auf der metatextuellen Ebene Trägerin eines sprachphilosophischen Konzepts, das die dichterische Sprache als Rücknahme der Degradierung von Sprache durch die Zwänge der Mimesis und der Alltagskommunikation in die Pflicht nimmt und deren Bedeutungsinventar überschreitet.

Mayröckers Texte sind dabei stets Transgressionen im performativen Sinne, da sie in ihrer Ereignishaftigkeit transgressive Handlungen darstellen. Grenzüberschreitungen werden aber auch thematisiert. So gewinnt in Mayröckers Spätwerk die Auseinandersetzung mit transitorischen Zuständen wie Krankheit oder Alter an Bedeutung, transitorische Räume oder heterotope Orte wie das Krankenhaus oder der Friedhof spielen eine größere Rolle. Der Körper und sein Verfall treten in den Vordergrund, physiologische Prozesse werden häufiger thematisiert. Dabei wird die Grenze zwischen dem Geistigen und dem Materiellen, Körperlichen verhandelt.  Als Übergang von der belebten zur unbelebten Materie wird der Tod zum transgressiven Phänomen schlechthin. Dem bekannten Diktum Wittgensteins zufolge ist der Tod „kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.“ Mayröckers Schreiben bewegt sich an dieser Grenze und setzt sich dem 'Anderen' des Todes aus, das sich menschlicher Erfahrung und der Begrifflichkeit der Sprache entzieht.

Damit verbindet sich das Überschreiten von Zeitordnungen. In Mayröckers Texten werden Zeitekstasen als Heraustreten aus der chronologischen Zeit gestaltet. Gerade in der Darstellung der anderen Erfahrung von Krankheit und Alter, aber auch von Verlust und Trauer unterliegt das Zeitkontinuum einer Fragmentierung, es überlagern sich Zeitebenen, Vergangenes bricht in die Gegenwart ein, die Endlichkeit des Lebens scheint auf. Im Schwebezustand ‚freier‘ Zeitempfindung werden Schwellenerfahrungen möglich, Texte wie Pathos und Schwalbe legen Zeugnis ab von der Brüchigkeit und Hybridität der Zeiterfahrung und konturieren Eigenzeiten des Körpers angesichts von Krankheit, Alter und Sterblichkeit. Sie werden mit einer kosmologischen Zeitordnung abgeglichen, indem die Texte eine Hinwendung zur Natur und zum Rhythmus der Jahreszeiten, des Werdens und Vergehens vollziehen. Dabei wird das Ereignishafte und Transitorische des Augenblicks performativ zur Geltung gebracht, die Texte markieren eine prekäre Schwelle zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und konturieren unsichere Momente einer sich letztlich entziehenden Zeitlichkeit.

Mit dem Heraustreten aus dem Endlichen ist die die Beziehung zur Transzendenz angesprochen, die Bewegung auf das Numinose zu. In Mayröckers späten Texten vollzieht sich eine intensive Auseinandersetzung mit dem Absoluten, das den Bereich des beschränkten menschlichen Erkennens überschreitet. Die Grenzverhandlungen des Übermenschlichen in Mayröckers Spätwerk verleihen den Texten eine spirituelle Dimension,  die bisher in der Forschung noch wenig Berücksichtigung fand.

Ebenso wohnt der Einverleibung derNatur durch das Subjekt eine Dynamik der Entgrenzung inne. In Mayröckers Texten berühren sich das Menschliche und das Animalische oder Florale, auch die Grenzen zwischen dem Vegetativen und dem Anorganischen und Dinglichen sind fließend und können jederzeit in alle Richtungen überschritten werden. Mayröckers Texte entriegeln die ontologische Sperre zwischen Mensch und Tier und machen sich zu Operationsfeldern, auf denen die Grenzen des Humanen immer wieder aufs Neue verhandelt und verschoben werden. Sie stellen die Zäsuren zwischen Logos und Natur, Mensch und Tier in Frage und versuchen eine Neu-Perspektivierung des Menschlichen aus der Sicht des Nicht-Humanen. Hegemonialen Ordnungen halten Mayröckers Texte die Möglichkeit einer ebenbürtigen, transspezifischen Begegnung entgegen, die sich in einer ‚grenzenlosen‘ Empathie, einer tiefen Ergriffenheit von der Natur äußert. Gerade die späten Texte laden zum Nachdenken ein über den Status des Menschlichen auf der Schwelle zum animalischen Dasein, und stellen dabei stets die existenzielle Frage nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur in den Raum. Mayröckers Tiere legen die der menschlichen ‚Natur‘ eingeschriebene Hybris offen, die nur in der ironischen Selbstreflexion überwunden werden kann – allerdings um den Preis einer brüchigen und transitorischen Identität.

Auch Entgrenzungszustände desBewusstseins wie der Traum und eine bis zum Wahnsinn gesteigerte dichterische Ekstase, die für Mayröckers Schreiben durchgängig konstitutiv sind, sind in den späten Texten zurück von einer subtilen Selbstironie grundiert. Die Auflösung der Grenzen des Ich, das sich durchlässig macht für die Wirklichkeit, scheint hier eine neue Qualität zu gewinnen – es vollzieht sich zunehmend der Rückzug des Subjekts in eine „passivitée souveraine“ (Blanchot), einen Zustand bedingungsloser Offenheit, in dem sich das schreibende Ich der Welt aussetzt. Mit dieser ‚Poetik der Absichtslosigkeit‘ scheint eine weitere ‚Grenze‘ künstlerischer Kreation erreicht.

Mit der Überschreitung Grenzen sowie dem Ausloten von Zwischenräumen und Zwischenzuständen kann somit eine zentrale Dimension von Mayröckers Spätwerk benannt werden. Der Vielfältigkeit der Transgressionen in Mayröckers Spätwerk soll die Pluralität der Konzeptualisierungen gerecht werden. Transgressionen sollen in ihrem Wortsinn als Überschreitung, Übergang und Übertretung oder auch Durchbruch verstanden werden. Als solche kann der Begriff Transgression als Bruch mit der Tradition gleichbedeutend mit Innovation verwendet werden, wie sie zum Paradigma der Moderne schlechthin wurde.

Weiterführend ist das Transgressive aber auch in den Ausweitungen, die der Begriff etwa im Zuge des ‚performative turn‘ erfahren hat. Zu nennen wäre hier das Konzept des Transitorischen, das sich Grenzen bzw. Schwellen zuwendet und Übergänge zwischen Zeiten, Begriffen, Gattungen, aber auch Prozesse des Wandels, des Zusammenlesens, der Neu- und Umperspektivierung fokussiert. Denkfiguren des Transitorischen sind dementsprechend transitorische Orte und Zustände, Übergänge, Schwellen- und Grenz- bzw. Krisenerfahrungen, oder auch das Transitorische, Provisorische der menschlichen Existenz. Auch das Konzept der Liminalität könnte fruchtbar gemacht werden, indem Mayröckers späte Texte auf Zustände des Liminalen (Turner) befragt werden, die einen Raum des ‚Dazwischen‘ ausleuchten und die Unbestimmtheit und Unsicherheit von Schwellenerfahrungen zwischen den Lebensstadien kennzeichnen, etwa durch die Konfrontation mit dem Tod, aber auch mit übermenschlichen Kräften. Dabei bietet die Phase der Liminalität einen fruchtbaren Spielraum für die Dekonstruktion symbolischer Ordnungen, unterstützt durch liminoide Genres wie Malerei und Musik, in deren Freiraum Sinnordnungen überschritten oder gebrochen werden. Diskutiert werden soll die Frage, mit welchen theoretischen Zugängen die in Mayröckers Spätwerk zum Tragen kommenden Transgressionen erfasst werden können, und inwieweit das ‚andere‘ Schreiben, das Mayröcker ansteuert, ein Überschreiten der zuhandenen Theorien und Begrifflichkeiten herausfordert.

Folgende Aspekte und Fragen sollen zu einer Auseinandersetzung mit Mayröckers ‚Grenzgängen‘ einladen, können aber gerne um weitere ergänzt oder miteinander verbunden werden:

  • Wie lassen sich Mayröckers Entgrenzungen der Gattungen gattungstheoretisch erfassen? Lassen sie sich etwa in eine „Theorie der Prosa“ (Ralph Simon) integrieren?
  • Welcher Textbegriff kann für Mayröckers Schreiben in Anschlag gebracht / entwickelt werden? Sind die Konzepte der Intertextualität und der Intermedialität mit Blick auf Mayröckers Schreibpraxis tragfähig?
  • Wie wird in den späten Texten das transgressive Vermögen literarischer Sprache entfaltet? Welche Verfahren der Sinnkomplexion bzw. Bedeutungsdekonstruktion werden wirksam? In wieweit kommt das Entgrenzungspotenzial des Performativen zum Tragen?
  • Wie lässt sich der Standort des schreibenden Subjekts theoretisch erfassen?
  • Wie werden Bewusstseinszustände gestaltet, die mit Entgrenzungserfahrungen einhergehen? Welche Bedeutung kommt dabei der Ironie zu?
  • Wie kann die spirituelle Dimension von Mayröckers Texten bestimmt werden?
  • Wie verläuft in Mayröckers Schreiben die Auseinandersetzung mit Alter, Tod und Zeit? Wie lassen sich die brüchigen und hybriden Erfahrungszeiten in Mayröckers Texten aus erzähl- oder gattungstheoretischer Perspektive beschreiben?
  • In welchen Diskursfeldern bewegt sich Mayröckers Auseinandersetzung mit dem ‚Anderen‘ der Zeit und der Natur, welche ästhetischen Paradigmen sind leitend? In wieweit spielt im Verhältnis zur Natur das Erhabene als Grenzwert eine Rolle?
  • Wie wird in Mayröckers späten Texten die deterritorialisierende Kraft des Tieres (Deleuze / Guattari) fruchtbar gemacht? (Mayröckers speziesübergreifende Poetik könnte beispielsweise im Kontext der Human-Animal-Studies diskutiert werden).
  • Ist für Mayröckers Spätwerk die in der Moderne anvisierte Verschmelzung von Kunst und Leben noch relevant?
  • Die Tagung möchte gerne auch den Übersetzungen von Mayröckers Texten Raum geben. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, in wieweit sich das Transgressive für die Analyse der Übersetzungen von Mayröckers Texten fruchtbar machen lässt. Die Übersetzung soll als Modellfall der Transgression in den Blick rücken, in dem sich die in den Texten angelegten Grenzüberschreitungen spiegeln und so fassbar werden.

Geplant ist im Anschluss an die Tagung die Publikation eines Bandes mit ausgewählten Beiträgen.

Deadline für Abstracts im Umfang von etwa 300 Wörtern samt kurzen bio-bibliographischen Angaben: 20.2.2020 per E-Mail an Univ.-Prof. Dr. habil. Beate Sommerfeld (bsommer@amu.edu.pl) und mgr. Joanna Bukowska (jb.bukowska@gmail.com).

Rückmeldungen erfolgen per E-Mail bis zum 29.2.2020.

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literatur aus Deutschland/Österreich/Schweiz, Gattungspoetik, Literatur des 20. Jahrhunderts, Literatur des 21. Jahrhunderts
Friederike Mayröcker ; Transgression

Links

Ansprechpartner

Einrichtungen

Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu | Adam Mickiewicz University (AMU)
Datum der Veröffentlichung: 21.10.2019
Letzte Änderung: 21.10.2019