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Die Vielschichtigkeit des Erinnerns. Literatur- und medienwissenschaftliche Analysen

Deadline Abstract
30.11.2024
Deadline Beitrag
01.02.2025

Sammelband Die Vielschichtigkeit des Erinnerns. Literatur- und medienwissenschaftliche Analysen

Dr. Anna Braun-Beneke (annabraun@uni-koblenz.de) und Dr. Nicolai Glasenapp (nglasenapp@uni-koblenz.de)

 

Erinnern stiftet Identität, sowohl für Einzelne als auch für Gruppen und Kulturen, denn es stellt über eine gemeinsam geteilte Vergangenheit Verbindungen und Verbindlichkeiten her (vgl. Assmann 2005, 16f.). Doch Erinnern beruht auf (subjektiver) Wahrnehmung und ist – wie die Erkenntnisse der Neurowissenschaften zeigen – anfällig für Veränderungen und das Vergessen, denn es basiert auf einem „Montageprinzip“ (Welzer 2011, 39). Die entstandenen Neuronenverbindungen können bis zur Auflösung verblassen, wenn sie nicht häufig aktiviert werden. Vorhandene Lücken werden aufgefüllt, mitunter auch mit Material aus Film und Literatur, das nicht Teil des autobiographischen Gedächtnisses ist.

Bietet bereits das singuläre Subjekt mit seinen autobiographischen Erinnerungen Anlass nach einer Vielschichtigkeit des Erinnerns zu fragen, findet dies für unterschiedliche Individuen in Kollektiven umso mehr Ausdruck in divergierenden Erinnerungen. Dies zeigt sich auch in einem „gesellschaftlichen Kampf um Erinnerungen“ (Lee 2019, 15), bei dem alternative Versionen von Erinnerung gegeneinander abgewogen werden, um die Frage zu beantworten: „Wem gehört die Geschichte?“ (Braun 2013, 9).

Seit den 1990er Jahren gilt für literarische Texte tendenziell der Grundsatz „memory sells“ (Erll 2011, 228). Darüber hinaus spielen multimodale Formate des Erinnerns, wie sie sich im zeitgenössischen postdramatischen Drama oder im Rahmen von Graphic Novels finden, zunehmend eine wichtige Rolle (vgl. Hallet 2012, 2f.). Fragen zur Diversität des Erinnerns ergeben sich zudem für die Gender Studies (vgl. Nagelschmidt/Probst/Erdbrügger 2010), die Animal Studies (vgl. Borgards 2016) oder die Plant Studies (vgl. Thellier 2017).

Aktuelle technologische Entwicklungen wie domänenspezifische Anwendungen Künstlicher Intelligenz (KI) und deren Reflexion in nicht-fiktionalen und fiktionalen Massenmedien lassen sich ebenfalls unter dem Paradigma der Erinnerung in den Blick nehmen: So werden generative Sprachmodelle nach dem Vorbild des menschlichen Gedächtnisses als neuronale Netzwerke mit weitreichenden, abstrakten Blackbox-Anteilen gestaltet und die enormen, aber begrenzten und teilweise fragwürdigen Datensätze, mit denen die Wahrscheinlichkeitsrechner gespeist werden, werfen neue Fragen des Erinnerns und Vergessens auf (vgl. Müller/Fürstenberg 2023, 328-335). Insbesondere ein dichotomisches „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ bei der Verarbeitung des Inputs (ebd., 330), das vom jeweiligen Schwellenwert der einzelnen künstlichen Neuronen innerhalb der Architektur verborgener Schichten abhängig ist und notwendigerweise zu Datenverlust führen muss, rückt die Produktion von Aktivierungsmustern in den Bereich der Erinnerungsreflexion im Kontext von KI (vgl. ebd., 330; Koehler 2024). Dass solche Chatbots wenn überhaupt nur bedingt auf die von ihnen als Input verwendeten Daten verweisen oder solche sogar erfinden, ‚halluzinieren‘, ist nicht nur aus ethischer und juristischer Perspektive im Hinblick auf das Urheberrecht interessant (vgl. Ott 2023; Krammer/Leichtfried 2024), sondern auch aus erinnerungspolitischer Sicht. KI-generierte Fakenews-Verbreitung ist ebenfalls ein erinnerungspolitischer Aspekt, der in seinen potentiell demokratiegefährdenden Auswirkungen fatale Folgen haben kann. Da Sprachmodelle stets mithilfe eines Zufallsgenerators aus den wahrscheinlichsten Folgeworten auswählen und so immer neue – und deshalb nicht als Plagiat nachweisbare – Textvariationen hervorbringen, die typische Muster menschlicher Sprache repräsentieren, reproduzieren und verstärken generative Sprachmodelle systematisch Vorurteile (vgl. Müller/Fürstenberg 2023, 333f.). Sie wirken beispielsweise auch an den weiterhin bestehenden Mechanismen mit, die weibliche Autorinnen bis in die Gegenwart von nachhaltigen Kanonisierungsprozessen ausschließen, wenn diese etwa auf aktuellen Leselisten nach wie vor unterrepräsentiert sind, was wiederum als Datensatz für Chatbots dient und durch diese weiter verbreitet wird (vgl. Catani 2023). Wenn KI-generierte Kunst- und Literaturproduktion, verknüpft mit Fragen nach der Möglichkeit schöpferischer Kreativität von KI-basierten Anwendungen jenseits der Zementierung standardisierter Muster, häufig in Verbindung mit der Auslotung anthropologischer Reflexionen und von Autorschaftskonzepten, als Diskussionspunkt im Bereich des Literaturbetriebs hinzukommt, werden vielschichtige Erinnerungserwägungen potenziert (vgl. ebd.). In Literatur, Film und Computerspiel wird das Einsetzen der ursprünglich als anthropologisches Unikum angesehenen Erinnerung auf Sujetebene häufig inszeniert, um die Bewusstwerdung erstarkender KI erfahrbar zu machen und mögliche Grenzen oder Parallelen zwischen Mensch und Maschine auszuloten (vgl. Irsigler/Orth 2021; Leichtfried 2024).

Die Idee zu diesem Sammelband entstand bei der Organisation und Durchführung eines Doppelpanels mit dem Titel Die Vielschichtigkeit von Erinnerungsprozessen im Rahmen des 27. Deutschen Germanistentages 2022 in Paderborn zum Thema „Mehrdeutigkeit“. Mehrdeutigkeit ist ein bedeutsames Kriterium intersubjektiver literarischer Wertung – sie trägt zur Aktualisierbarkeit von Literatur im weiten, so etwa auch Filme umfassenden Sinne bei und regt dazu an, über einen literarischen Text längerfristig nachzudenken, so dass er mit seinen Inhalten, Themen und formalen Gestaltungsweisen zu einem Reflexionsgegenstand seiner Leser*innen wird, die ihn in Beziehung zu ihrer Lebenswelt setzen können.

Insbesondere in Erinnerungsliteratur ist die Mehrdeutigkeit ein wichtiges Merkmal, das über die Komplexität und Qualität der Texte entscheidet: Tragen die Fictions of memory den Problemen des Erinnerns Rechnung und machen transparent, dass es sich stets um narrativ bzw. medial geformte Rekonstruktionen und Interpretationen der Vergangenheit handelt, wodurch sich ein Raum für Unzuverlässigkeiten öffnet? Wird thematisiert, dass es selektive Erinnerungsversionen sind, die potentiell in Konkurrenz zu anderen stehen? Inwiefern werden Mechanismen der Erinnerungspolitik wie Manipulation und Zensur reflektiert? Werden ein Mangel an Quellen und subjektive Rekonstruktionsprozesse (auf ästhetische Weise) verdeutlicht? Wie wird sichtbar gemacht, dass bereits die Wahrnehmung von Ereignissen Züge subjektiver Konstruktionen trägt, die durch Einstellungen, Erwartungen und Erfahrungen geprägt wird und wiederum individuelle wie kollektive Erinnerungen und deren mediale Darstellungen formt?

Mit dem geplanten Sammelband soll Mehrdeutigkeit über die Vielschichtigkeit und Ambivalenz des Erinnerns in den Blick rücken. Geplant sind fünfzehn- bis zwanzigseitige Beiträge, in denen intra- und interdisziplinäre sowie intermediale Perspektiven einbezogen werden.

  • Darstellungsästhetik von Erinnerungsprozessen (z. B. genre- oder medienspezifisch)
  • Metaphern oder Motive der Erinnerungskultur
  • Interdisziplinäre Ausrichtung (z. B. Gender-, Postcolonial-, Animal- und Plant-Studies)
  • Didaktisches Potential des Erinnerungsparadigmas (in Theater, Film, Literatur und demokratischer Bildung)
  • Reflexionen von Erinnerungsprozessen in Zusammenhang mit ‚Künstlicher Intelligenz‘ und Digitalisierung (in Literatur, Film, Computerspiel, Lied, Hörspiel und Vermittlungsprozessen)

Exposés können bis zum 30.11.2024 eingereicht werden, die fertigen Beiträge im Umfang von 15-20 Seiten sollen bis zum 01.02.2025 bei den Herausgeber:innen eingehen.

 

Literaturangaben:

Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 5. Aufl. München: C. H. Beck 2005.

Borgards, Roland (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart: Metzler 2016.

Braun, Michael: Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskultur in Literatur und Film. Münster: Aschendorff 2013.

Catani, Stephanie: Mit KI schreiben – über KI schreiben. Künstliche Intelligenz als Thema im literaturwissenschaftlichen Studium. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 70 (2023), H. 4: Digitale Umbrüche. Sprache, Literatur und Deutschunterricht in Zeiten von Big Data und KI, herausgegeben von Hans-Georg Müller und Maurice Fürstenberg, S. 393-405.

Erll, Astrid: ,The social life of texts‘ – Erinnerungsliteratur als Gegenstand der Sozialge- schichte. Ein Kommentar. In: Bachleitner, Norbert/Begemann, Christian/Erhart, Walter/Hübinger, Gangolf (Hg.): Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Band 36, Heft 1. Berlin/Boston: De Gruyter 2011, S. 227-231.

Hallet, Wolfgang: Graphic Novels. Literarisches und multiliterales Lernen mit Comic-Romanen, in: Der Fremdsprachliche Unterricht, Englisch 117/46 (2012), S. 2-8.

Irsigler, Ingo/Orth, Dominik: Von Maschinen und Menschen. Technik-Fiktionen als Selbstreflexion des Homo sapiens. In: dies. (Hg.): Roboter, Künstliche Intelligenz und Transhumanismus in Literatur, Film und anderen Medien. Heidelberg: Winter 2021, S. 9-24.

Koehler, Jana: Zum Begriff der ‚Künstlichen Intelligenz‘. In: Stephanie Catani (Hg.): Handbuch Künstliche Intelligenz und die Künste. Unter Mitarbeit von Anna-Maria Hartmann. Berlin/Boston: De Gruyter 2024, S. 9-26.

Krammer, Stefan/Leichtfried, Matthias: Zwischen Hype und Disruption. Künstliche Intelligenz im Deutschunterricht. In: ide. zeitschrift für den deutschunterricht in wissenschaft und schule 48 (2024), H. 2: Künstliche Intelligenz, hg. v. dens., S. 23-31.

Lee, Youngju: Erinnerungspraktiken in der neuen Erinnerungsliteratur. Erfundene Erinnerung in den Werken Im Krebsgang von Günter Grass und Austerlitz von W.G. Sebald. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019.

Leichtfried, Matthias: Maschine bewusst sein. Analyse fiktionaler Darstellungen von Bewusstwerdungsprozessen am Beispiel von Westworld, Detroit: Become human und DAVE. In: Literatur im Unterricht. Texte der Gegenwartsliteratur für die Schule 25 (2024), H. 1: Künstliche Intelligenz. Verhandlungen in der Gegenwartsliteratur und Perspektiven für das literarische Lernen, hg. v. Jan Standke, S. 75-86.

Müller, Hans-Georg/Fürstenberg, Maurice: Der Sprachgebrauchsautomat. Die Funktionsweise von GPT und ihre Folgen für Germanistik und Deutschdidaktik. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 70 (2023), H. 4: Digitale Umbrüche. Sprache, Literatur und Deutschunterricht in Zeiten von Big Data und KI, herausgegeben von Hans-Georg Müller und Maurice Fürstenberg, S. 327-345.

Nagelschmidt, Ilse/Probst, Inga/Erdbrügger, Torsten (Hg.): Geschlechtergedächtnisse. Gender-Konstellationen und Erinnerungsmuster in Literatur und Film der Gegenwart. Berlin: Frank & Timme 2010.

Ott, Christine: Bildung in der digitalen Welt: Rückwirkungen generativer künstlicher Intelligenzen auf den Deutschunterricht. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 70 (2023), H. 4: Digitale Umbrüche. Sprache, Literatur und Deutschunterricht in Zeiten von Big Data und KI, hg. v. Hans Georg Müller u. Maurice Fürstenberg, S. 382-392.

Thellier, Michel: Haben Pflanzen ein Gedächtnis? Berlin: Springer 2017.

Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. 3. Aufl. München: C. H. Beck 2011.

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Dr. Anna Braun-Beneke, Universität Koblenz 

Dr. Nicolai Glasenapp, Universität Koblenz

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annabraun@uni-koblenz.de

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https://www.uni-koblenz.de/de/philologie-kulturwissenschaften/germanistik/team

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literatur und Medienwissenschaften, Intermedialität, Ästhetik, Stoffe, Motive, Thematologie

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Universität Koblenz
Datum der Veröffentlichung: 14.10.2024
Letzte Änderung: 14.10.2024