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CfP: Sammelband "Rezipienten als Straf- und Kunstrichter. Oszillationen zwischen Urteil und Deutung" (15.05.2022)

Deadline Abstract
15.05.2022
Deadline Beitrag
01.11.2022

Call for Papers – Beiträge für Sammelband:

  

Rezipienten als Straf- und Kunstrichter. Oszillationen zwischen Urteil und Deutung [Der Band erscheint im Rahmen des Münsteraner Sonderforschungsbereichs „Recht und Literatur“ in der Reihe „Literatur und Recht“ des Metzler Verlages.]

Hrsg. von Nursan Celik und Dr. Sebastian Speth

  

„[S]elbst zu Gericht zu sitzen“ ist für Friedrich Schiller Recht und Pflicht „des lesenden Publikums“ (Schiller 1792, S. 14). Um Leserinnen und Leser an die Funktionsstelle von Richtern setzen zu können, müsse der Erzähler sie mit der Vorgeschichte der literarischen Figuren vertraut machen, sodass auch Motive und Lebensumstände in das Urteil einbezogen werden. Damit macht Schiller in Der Verbrecher aus verlorener Ehre die rechtshistorische Entwicklung vom Tat- hin zum Täterstrafrecht (vgl. Greve, S. 23–27) zu einem Teil seines poetologischen Programms. Mit dem erzählerischen Kniff, gerade den Urteilsvollzug am Ende seiner Kriminalgeschichte auszusparen, überführt Schiller den nach historischen Quellen erzählten Fall „aus dem hermetischen Raum juristischer in den offenen Raum literarischer Verfahren“ (Landfester, S. 181). Hier besteht die Möglichkeit, juristische Laien zu einem eigenen Urteil in Strafsachen zu ermächtigen. Achim Aurnhammer beschreibt dies als eine Form ‚engagierten Erzählens‘. Die Leser werden so „zum Verbündeten seines Engagements gegen die herrschenden Normen und für eine humane Gesellschaft“ (vgl. Aurnhammer, S. 259). Andernorts ist für Schiller in diesem Zusammenhang „[d]ie Gerichtsbarkeit der Bühne“ von zentraler Bedeutung, da sie eben dort anfange, „wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt“ (Schiller 1784, S. 823). Wie das Theater im Besonderen, so wird die Literatur im Allgemeinen aus Schillers Perspektive zur „vollkommenere[n] Justiz“ (von Matt, 10), wenn „Urteil und Affekt“ verbunden werden (Wihstutz, S. 81) und sich das ‚Rechtsgefühl‘ des Publikums als entscheidende Instanz erweist (vgl. Schmidt, S. 127f.). Urteilsgrundlage sind hier nicht allein positive Gesetze und Verbote, sondern gerade auch moralisch-ethische und zum Teil religiöse Sichtweisen auf einen konkreten Fall. Darüber hinaus besteht ein wesentlicher Reiz der literarischen Darstellung von Rechtsfällen darin, dass Literatur anders als die Rechtsprechung selbst nicht unter dem Diktat der Urteilspflicht steht. Dadurch können Mehrdeutigkeiten ausgehalten und verschiedene – auch einander widersprechende – Leserurteile provoziert werden.

Der geplante Sammelband ist nun zum einen mehrdeutigen Texten gewidmet, die explizit dazu auffordern, dass sich Leser*innen ein eigenes Urteil bilden sollen und wie sich dies gegenüber der geltenden Rechtspraxis und -theorie verhält bzw. inwiefern Impulse zur Reform dieser Praxis gegeben werden. Zum anderen interessieren uns Texte, die im weiten (literarästhetischen) Sinne des Urteilbegriffs die Rezipierenden in das Amt eines Kunstrichters bzw. eine Kunstrichterin einsetzen. Damit sei sich auf Texte fokussiert, die Rezipient*innen explizit als Straf- oder Kunstrichter ansprechen. Innerhalb der Rechtsgeschichte gibt es einige störanfällige Punkte, an denen es sich besonders lohnt, auf die wechselseitige Beeinflussung von Literatur durch das Recht, aber auch des Rechts durch die Literatur zu achten.

Ein weites, genuin literarisches Feld ist im vorliegenden Zusammenhang mit den Konzepten der ‚poetischen Gerechtigkeit‘ (vgl. Zach und Kaul) respektive der ‚poethics‘ (vgl. Weisberg) verbunden. Dabei handelt es sich um Prinzipien höherer Gerechtigkeit jenseits des Paragraphenstaubs, die oftmals direkt an das ‚Rechtsgefühl‘ der Leser*innen appellieren. Im Besonderen interessieren uns hierbei Texte, die explizit Leserinnen adressieren, nicht zuletzt, weil das historische Gerichtswesen selbst keine Frauen in Richterpositionen kennt. Zu denken ist hier beispielsweise an die Veröffentlichungen in Johann Christoph Gottscheds Die Vernünftigen Tadlerinnen.

Mögliche Texte und Themen sind (in Auswahl):

·         Poetische Gerechtigkeit und die Grenzen des Justizsystems

·         Andreas Gryphius: Catharina von Georgien, Großmütiger Rechtsgelehrter u. a.

·         Rezipientinnen als (Kunst-)Richterinnen in Johann Christoph Gottscheds Die Vernünftigen Tadlerinnen und in anderen Texten und Gattungszusammenhängen

·         Das Amt des Kunstrichters bei Georg Friedrich Meier und den ‚Schweizern‘

·         Das Publikum als Richter in Gotthold Ephraim Lessings Briefe, antiquarischen Inhalts

·         Friedrich Schillers engagiertes Erzählen und die Gerichtsbarkeit der Schaubühne

·         Unterschiede von rechtlicher Schuld und moralischer Unschuld in August Gottlieb Meißners Kriminalgeschichten

·         Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas, Der zerbrochene Krug u. a.

·         Kant und das ästhetische Urteilsvermögen

·         E. T. A. Hoffmann: Nachtstücke, Die Serapionsbrüder u. a.

·         Alfred Döblins ‚Berliner Programm‘ zur Durchbrechung der Urteilshegemonie des Autors

·         Bernhard Schlink: Selbs Justiz, Der Vorleser u. a.

·         Juli Zeh: Corpus Delicti, Corpus Delicti. Ein Prozess u. a.

·         Ferdinand von Schirach: Die Würde ist antastbar, Terror u. a.

·         Petra Morsbach: Justizpalast, Der Elefant im Zimmer u. a.

  

Weitere einschlägige Beitragsvorschläge sind sehr willkommen.

Titelvorschläge mit einem knappen Abstract (maximal 1 Seite) senden Sie bitte bis zum 15. Mai 2022 per Mail an Nursan Celik (ncelik@uni-muenster) und Sebastian Speth (sspeth@uni-muenster). Über die Annahme der Beitragsvorschläge informieren wir bis Ende Mai. Einreichungsfrist für die inhaltlich abgeschlossenen Manuskripte ist der 1. November 2022. Die einzelnen Beiträge sollten eine Länge von 60.000–80.000 Zeichen nicht überschreiten. Die Drucklegung erfolgt voraussichtlich in der ersten Jahreshälfte 2023.

  

Literatur:

Aurnhammer, Achim (1990): „Engagiertes Erzählen: ‚Der Verbrecher aus verlorener Ehre‘“, in: Aurnhammer, Achim/Manger, Klaus/Strack, Friedrich (Hrsg.): Schiller und die höfische Welt. Tübingen, 254–270.

Greve, Ylva (2004): Verbrechen und Krankheit. Die Entdeckung der „Criminalpsychologie“ im 19. Jahrhundert. Köln/Weimar.

Kaul, Susanne (2008): Poetik der Gerechtigkeit. Shakespeare – Kleist. München.

Landfester, Ulrike (1996): „Das Recht des Erzählers. Verbrechensdarstellungen zwischen Exekutionsjournalismus und Pitaval-Tradition 1600–1800“, in: Böker, Uwe/Houswitschka, Christoph (Hrsg.): Literatur, Kriminalität und Rechtskultur im 17. und 18. Jahrhundert. 155–183.

Matt, Peter von (2013): Recht, Gerechtigkeit und Sympathie. Über die Gerichtsbarkeit der Literatur und ihre Strategien. St. Gallen/Zürich.

Meier, Georg Friedrich (1745): Abbildung eines Kunstrichters. Halle.

Schiller, Friedrich ([1784] 2004): „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“, in: Sämtliche Werke. Bd. 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hrsg. von Wolfgang Riedel. München, 818–831.

Schiller, Friedrich ([1792] 2004): „Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte“, in: Sämtliche Werke. Bd. 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hrsg. von Wolfgang Riedel. München, 13–35.

Schmidt, Florian (2020): Rechtsgefühl. Subjektivierung in Recht und Literatur um 1800. Paderborn.

Weisberg, Richard H. (1992): Poethics, and other strategies of law and literature. New York.

Wihstutz, Benjamin (2017): „Gerichtsbarkeit. Über politisches und ästhetisches Urteilen im Theater“, in: Köhler, Sigrid G./Müller-Mall, Sabine/Schmidt, Florian/Schnädelbach, Sandra (Hrsg.): Recht fühlen. Paderborn, 81–93.

Zach, Wolfgang (1986): Poetic Justice. Theorie und Geschichte einer literarischen Doktrin. Begriff – Idee – Komödienkonzeption. Tübingen.

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literatur aus Deutschland/Österreich/Schweiz, Literatur und Recht, Ästhetik

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Einrichtungen

Westfälische Wilhelms-Universität Münster (WWU)
SFB 1385 Recht und Literatur
Beitrag von: Nursan Celik
Datum der Veröffentlichung: 12.04.2022
Letzte Änderung: 12.04.2022