CfP/CfA Veranstaltungen

BAUSTELLE Brecht V: „Darum bleibt alle stehen, wo ihr steht, und singt den Choral der Ärmsten der Armen“ – Praktiken der Platznahme bei Brecht, Benjamin und Co.

Beginn
30.11.2023
Ende
01.12.2023
Deadline Abstract
15.08.2023

Das Literaturforum im Brecht-Haus lädt in Zusammenarbeit mit der International Brecht Society (IBS) Wissenschaftler:innen (besonders Graduierte, Doktorand:innen und andere Early Career Researcher) aller Disziplinen dazu ein, ihre Arbeiten zu Bertolt Brecht vorzustellen und zu diskutieren. Bevorzugt werden Beiträge gesucht, die sich mit dem Themenkomplex der sozialen Raumnahme bei Brecht und seinen Zeitgenoss:innen beschäftigen.

Der Zugang, das Nutzungsrecht und das Verhältnis von öffentlichen zu privaten Räumen war schon immer durch Zugehörigkeit zu Klasse, Rasse oder Ethnie, Altersgruppen, Geschlecht und weiteren sozialen Machtkonstellationen und Identitätsmarkern geprägt. Wer an welcher Stelle im Bus sitzen darf, welche Zutrittsbeschränkungen jeweils für öffentliche Gebäude, Einkaufszentren oder Spielplätze gelten, welche Freundschafts- und Sorgebekundungen im öffentlichen Raum als statthaft gelten, hat nicht nur mit sozialer Normenkontrolle zu tun, sondern mit tatsächlicher Machtausübung durch Mehrheitspositionen und Institutionen. Solche ‚traditionellen‘ Formen eines differenzierenden Zugangs des Individuums zu sozialen Räumen werden zugleich in sozialen Kontexten wie Familie und Freundschaften, Arbeits-, Solidar- oder Protestgemeinschaften sowie Geschlechts- und ‚ethnische‘ Gruppenidentitäten immer wieder relativiert oder verändert. Wie aber beziehen sich heute Individuen wie wechselnde soziale Gruppen auf den sie umgebenden Raum, welche Erfahrungen lässt der (urbane) Raum zu und welche nicht, wie verändern sich in Zeiten der Verdichtung und der gleichzeitigen Stadtflucht das Verhalten und die Bedingungen desselben? Nicht zuletzt haben die soziale Distanzierung und die Ungewissheit, die durch die globale Covid-Pandemie entstanden sind, solche Beziehungen radikal umgestaltet. Während das Home Office nicht für alle gleichermaßen eine Option war (vor allem für Pflegekräfte oder andere soziale Dienstleister:innen), bedeutete die Beschränkung auf den häuslichen Bereich für andere unter Umständen eine Eskalation geschlechts- oder gruppenspezifischer Gewalt, Bildungsdefizite oder psychische Störungen – ganz abgesehen von der Privatisierung von Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge wie (Hoch-)Schulbildung, Gesundheitsvorsorge und integrative Sozialarbeit. Zugleich sorgen die Finanzkrise und ihre Nachwehen für Verschiebungen, Verdrängungen und komplett neue Konstellationen am Arbeits- und Wohnungsmarkt.

Bertolt Brecht hat in den 1920er Jahren, u.a. in „Aus dem Lesebuch für Städtebewohner“, in den dramatischen Texten „Im Dickicht der Städte“, „Trommeln in der Nacht“ oder „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ sowie in Prosatexten und Fragmenten wie „Der Brotladen“, seinen verschiedenen Cäsar-Bearbeitungen oder „Die unwürdige Greisin“ von strukturell ähnlichen Erfahrungen Zeugnis gegeben.  Die Landflucht – das Verlassen der Provinz und der Zuzug in die Städte des späten Kaiserreiches und der Weimarer Republik – markierte eine massive Veränderung im räumlichen und damit sozialen Verhalten vieler Menschen zueinander. In seinem Denken und Schreiben spielen dementsprechend Fragen des Wohnens, Arbeitens, Sichtbarwerdens und Verschwindens, der (versteckten oder öffentlichen) Sorgearbeit und der (kriminellen oder organisierten) Ent- oder Aneignung des Menschen durch und im Raum der Stadt eine Rolle. Nicht zuletzt finden sich in seinen oder den Texten seines Freundes und produktiven Sparringspartners Walter Benjamin wie „Einbahnstraße“ oder „Berliner Kindheit um 1900“ sowie in der „Dreigroschenoper“ oder dem gemeinsamen Filmprojekt mit Slatan Dudow und Ernst Ottwald „Kuhle Wampe, oder: Wem gehört die Welt?“ auch Praktiken eines klassenbewussten Raumnehmens der „Ärmsten der Armen“ (Peachum), einer Psychogeographie (wie es die Situationistische Internationale nennen wird) sowie eines performativ verstandenen Lesens und Produzierens räumlicher Konstellationen. Mit neuen Techniken wie dem Radio oder dem Film untersuchten beide zugleich die Möglichkeiten einer Raum und Zeit transzendierenden Kommunikation über utopische, zukünftige Sozialordnungen und Artikulationsformen.

Mit Brecht, Benjamin und anderen Zeitgenoss:innen möchte die fünfte Ausgabe der BAUSTELLE Brecht nach solchen raumsoziologisch verstandenen Praktiken und Prozessen der ‚Platzierung‘ (Martina Löw) in einer sich diskontinuierlich verändernden Lebenswelt fragen. Mögliche Fragestellungen und Themenfelder sind, beschränken sich aber nicht auf:

·        Welche raumgreifenden Praktiken entwickeln Menschen heute und/oder in Brechts Berliner Zeit vor dem Exil im Umgang mit den Erfahrungen ihrer jeweiligen Gegenwart?

·        Wie wird in der Gegenwart und/oder in der Weimarer Republik eine Raumhierarchie unterschiedlicher Benutzer:innen gedacht und realisiert und gibt es da mögliche Parallelitäten? Hat etwa die Pandemie bzw. die jeweils neue Erfahrung eines (un)begrenzten, anonymen (urbanen, digitalen, konsumistischen, aktivistischen) Raums die traditionell geschlechts- und klassenspezifische Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten verändert, verschärft oder um neue Aspekte erweitert? Welche, im Theater oder verwandten Medien thematisierten, Auswirkungen hatte ein solcher sozialer Wandel z.B. für Frauen, queere Menschen sowie für Migrant: innen?

·        Welche Arten von ökonomischer und sozialer Prekarität sowie klassen- bzw. genderspezifischer Raumpraktiken lassen sich mit Brecht in Performance und Theater abbilden oder hinterfragen?

·        Welche Auswirkungen hat die Entgrenzung von Arbeitsräumen ins Private hinein in Zeiten, in denen häusliche und außerhäusliche Sorgearbeit (auch um sich selbst) zur obersten Priorität geworden sind? Wie kann Theater oder Literatur hier solidarisierend, empowernd und zugleich entlastend wirksam werden?

·       Wie wirkte sich das Verbot öffentlicher Versammlungen und der fehlende Zugang zur Straße in den 1920ern wie in den 2020ern auf die politische und ästhetische Artikulation von politischem Dissens aus? Welche Alternativen bieten die jeweils neuen Medien?

·        Welche Modelle eines zeitgemäßen Verständnisses von Öffentlichkeit und Privatheit lassen sich mit oder gegen Brecht für unsere Gegenwart und Zukunft erkennen?

Weitere Themenvorschläge sind natürlich willkommen!

Die BAUSTELLE Brecht V wird vom Nachmittag des 30. November bis zum Abend des 1. Dezember 2023 im Literaturforum im Brecht-Haus Berlin stattfinden. Sie ist als Präsenzveranstaltung geplant; u.a. sieht das Programm eine Führung durch das Brecht-Haus (Museum mit Wohnungen, Archiv) vor. Um den Raum auch für Wissenschaftler:innen zu öffnen, die – aus familiären, gesundheitlichen oder ökologischen Gründen – nicht anreisen können oder wollen, gibt es zudem die Möglichkeit der virtuellen Teilnahme. Die anteilige Übernahme von Reise- und Unterbringungskosten in Form einer Pauschalvergütung ist geplant.

Beiträge – auf Deutsch oder Englisch – sollten 20 Minuten lang sein; willkommen sind zudem Materialpräsentationen, Lectures oder kleine Performances, die ihren work-in-progress-Charakter offenlegen und Fragen für die gemeinsame Diskussion entwickeln. Wir beabsichtigen, den Beiträgen Respondent:innen aus der Community der IBS zur Seite zu stellen. Die Publikation ausgewählter Beiträge in e-cibs (Electronic Communications of the IBS, https://e-cibs.org) im Anschluss an die Veranstaltung ist vorgesehen, möglich ist auch die Einreichung zum Peer-Review-Verfahren des Brecht Jahrbuchs/Brecht Yearbook.

Themenvorschläge von max. 350 Wörtern sowie eine biografische Notiz bitte bis zum 15. August 2023 an baustelle@lfbrecht.de. Die Auswahlentscheidung erfolgt bis Mitte September.

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literatur aus Deutschland/Österreich/Schweiz, Feministische Literaturtheorie, Postkoloniale Literaturtheorie, Medientheorie, Literatur und andere Künste, Drama allgemein, Literatur des 20. Jahrhunderts
Bertolt Brecht; Walter Benjamin; Raum

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Ansprechpartner

Dr. Christian Hippe

Einrichtungen

Literaturforum im Brecht-Haus (Lfb)
International Brecht Society
Universität Leipzig
Institut für Theaterwissenschaft

Adressen

Chausseestr. 125
10115 Berlin
Deutschland
Beitrag von: Micha Braun
Datum der Veröffentlichung: 29.05.2023
Letzte Änderung: 29.05.2023