CfP/CfA Veranstaltungen
Bauerngeschichten. Bauern und bäuerliche Lebenswelten in aktuellen Erzählungen und Diskursen, Bozen
Veranstaltungsdatum:
04.12.2025-05.12.2025
Deadline Abstract:
30.06.2025
Bauerngeschichten.
Bauern und bäuerliche Lebenswelten in aktuellen Erzählungen und Diskursen
Internationaler Workshop in Bozen, Eurac Research, Institut für Regionalentwicklung, Drususallee 1, 39100 Bozen/Italien
04./05. Dezember 2025
Im Jahr 2023/2024 wurden Traktoren zu medienwirksamen Schlachtrössern. Die Bauernschaft protestierte raumgreifend gegen die Zumutungen einer kritischen Öffentlichkeit und vermeintlich übergriffigen Green-Deal-Agrarpolitik; sie erhob ihre Stimme angesichts der wahrgenommenen eigenen Marginalisierung innerhalb gesellschaftlicher Debatten und politischer Entscheidungen. Landwirtschaft und Bauerntum sehen sich in der Gegenwart mit einer Vielzahl an ökonomischen, ökologischen und sozialen Problemen konfrontiert. Eines davon mag auch in einer fehlenden öffentlichen Thematisierung größerer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Zusammenhänge liegen, die die derzeitige Lage der Landwirtschaft beeinflussen und prägen. Agrarpolitische Neuregelungen erscheinen aus dieser Perspektive auch als mitunter explosive Auslöser, die auf den Straßen der Städte das angeknackste Selbstbild und Selbstverständnis eines marginalisierten, aber zugleich renitent erscheinenden Bauernstandes, der selbst diverse Ausdifferenzierungs- und Transformationsprozesse durchlaufen hat, entblößen. Tatsächlich beträgt laut Statista der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen aktuell (2023) in Deutschland nur noch 1,2% aller Erwerbstätigen (ca. 876.000); dabei sank die Anzahl der Betriebe von über 900.000 zu Mitte der 1970er Jahre auf mittlerweile rund 255.000. Zugleich spielen jedoch bildliche und narrative Rückbezüge auf bäuerliche und ländliche Lebensformen, Erfahrungswelten und Sozialverhältnisse (das präsentieren aktuell nicht zuletzt mehrere Ausstellungen und Diskussionsformate zum 500-jährigen Jubiläum des Bauernkrieges) immer wieder auch eine Rolle in zeitgenössischen politischen, kulturellen und sozialen Diskursen – und werden dort, das zeigen aktuelle mediale und literarische Formate, mit großem Erfolg bei den Rezipierenden aufgenommen.
Wie lässt sich diese Diskrepanz zwischen Marginalität und Protest, Wahrnehmung und kultureller Kapitalisierung der Lebensverhältnisse von Bauern verstehen und wie lässt sich davon erzählen? Tragen Bauernromane und Bauerngeschichten – seien sie nun bspw. in den internationalen Literaturen, in Filmen, Serien und Podcasts oder aber auf dem Sachbuchmarkt zu finden – zur Aufklärung über eine Bevölkerungsgruppe bei, von der die Zukunft der Gesellschaft ganz entscheidend abhängt? Entwerfen sie Szenarien, die Vergangenes verstehbar machen und/oder Zukünftiges erahnen lassen? Stellen Rückbezüge auf die Welt der Bauern und ihre Wiederaufnahme in kulturellen, sozialen und medialen Zusammenhängen und Diskursen darüber hinausgehend ein Feld der Selbstverständigung und der Aushandlung von Erfahrungen sowie Erwartungen und Vorstellungen an die Gegenwart und Zukunft fortgeschritten moderner Gesellschaften dar?
Dabei sind zugleich auch Leerstellen zu konstatieren, auf die die medialen Formen reagieren und die die spezifischen Funktionen der literarischen Texte sowie künstlerischen Werke besonders hervorheben: Denn die eindrücklichen statistischen Daten, die sich in den verschiedensten Erhebungen zu Höfesterben, Intensivierungs- und Diversifizierungsprozessen finden lassen, vermögen nicht, die dahinter liegenden Prozesse und Einzelschicksale anschaulich zu machen. Das, was auf den Höfen geschieht – sowie in den Strukturen, in die sie eingebunden sind –, bleibt gesellschaftlich weitgehend ungesehen. Das betrifft auch die erschreckenden Gesundheitsstatistiken über die in der Bauernschaft überdurchschnittlich weit verbreiteten Einsamkeitsgefühle, Burnouts, Depressionen und wöchentlichen Suizide. Gerade hier setzen auch aktuelle Bauerngeschichten und Bauernromane an. Wie werden das Individuelle, Emotionale, Mentale, Psychologische und die komplexen zwischenmenschlichen Verhältnisse in Partnerschaft und Familie, die Beziehungen zu Nachbarn und zur Dorf- und Stadtgesellschaft beschrieben und welche Identifikationsangebote machen sie?
Daher ist in Anlehnung an Markus Gabriels „Fiktionen“ (2020) zu fragen, welche tiefgehende ‚emotionale‘ Wahrheiten bäuerliche Fiktionen offenlegen können, die auf andere Weise nicht zugänglich wären bzw. die auf einer Ebene der Erfahrung liegen, die über faktische Ereignisse hinausgehen. Welche neuen Perspektiven eröffnen gegenwärtige Bauernromane und Bauerngeschichten auf das komplexe Zusammenspiel spezifischer, aber dennoch typischer betrieblicher, individueller, familiärer, sozioökonomischer Situationen und Entwicklungen auf dem Hof? Welche historischen und/oder regionsspezifischen Entwicklungslinien und/oder Umbrüche lassen sich im literarturhistorischen Vergleich zutage fördern?
Die Einordnung und Begriffsbestimmung bäuerlicher Darstellungen sind sozial- und literaturgeschichtlich sehr komplex. Besonders herausfordernd ist dies, wenn man sowohl ihre Bezüge zur Realität als auch ihre Darstellung in verschiedenen Medien betrachtet – etwa in Berichten, autobiografischen Texten, fiktionalen Erzählungen oder ideologischen Deutungen. Deshalb ist es wichtig, die Rolle von Bauern und Bäuerinnen sowie die damit verbundenen Bilder in ihren unterschiedlichen Funktionen und historischen Zusammenhängen zu analysieren. Zum Ersten geht es um die sozialhistorischen Gestalten der Bauern als selbstständig wirtschaftende und oft eigenständig handelnde Landnutzer. Dieses Bild zeigt sich zum Beispiel in den „Bauernromanen“ des 19. und 20. Jahrhunderts und kann als Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel von agrarischen zu marktorientierten modernen Gesellschaften verstanden werden, wie ihn Karl Polanyi mit der „Great Transformation“ beschreibt. Allerdings gerät daneben, zum Zweiten, im Bezug auf bäuerliche Welten auch die mit landwirtschaftlichen Tätigkeiten befasste ländliche Bevölkerung in den Blick. Dabei werden ihre vielfältigen Lebenslagen sichtbar, die sich teils stark unterscheiden – etwa in rechtlichem Status, Besitz, Versorgung, Teilhabe, Mobilität und gesellschaftlicher Anerkennung. Bauern und bäuerliche Lebenswelten, zum Dritten, sind nicht nur Bilder oder Argumente in verschiedenen Diskursen. Sie spielen auch eine wichtige Rolle in ideologischen Programmen – von der faschistischen Blut-und-Boden-Ideologie bis zu sozialistischen Konzepten wie dem sowjetischen Dorf. Dadurch werden nicht nur vielfältige Vorstellungen einer „organisierten Moderne“ im Sinne Peter Wagners (1995) sichtbar, sondern auch deren kritische Auseinandersetzung findet Raum, zum Beispiel in Literatur und Medien.
In den letzten Jahren ist – und zwar nicht nur in der deutschsprachigen Literatur – die Wiederkehr eines Genres festzustellen, das im 19. Jahrhundert ausgeformt wurde und nur vermeintlich anachronistisch erscheint: der Bauernroman. In mitunter einfühlsamer, aufrüttelnder und provozierender Weise berichten preisgekrönte Texte wie Jean-Baptiste Del Amos „Tierreich“ (2019), Jean-Pierre Rochats „Nebelstreif“ (2019) oder Reinhard Kaiser-Mühleckers „Wilderer“ (2022) von den heterogenen Erscheinungsformen des heutigen Bauerndaseins. Hilft diese Wiederaufnahme eines Genres, das immer wieder auch von prägnanten und paradigmatischen bäuerlichen Einzelschicksalen spricht, womöglich sogar, die aktuellen Entwicklungen und komplexen Problemlagen zwischen Stadt und Land besser verstehen zu können?
Literatur- und kulturhistorisch bemerkenswert ist dabei auch, dass aktuell vergleichsweise viele Autorinnen – wie etwa Juli Zeh mit „Zwischen Welten“ (2023, gem. mit Simon Urban), Jarka Kubsova mit „Bergland“ (2021) und „Marschlande“ (2023) oder Alina Herbing mit „Niemand ist bei den Kälbern“ (2017) – von bäuerlichen Lebenswelten erzählen und anhand ihrer Protagonistinnen einen anderen Blick auf die vermeintlich ‚maskulinen‘ Räume der Landwirtschaft werfen; was wiederum eine große Leser/innenschaft zu erreichen vermag. Bemerkenswert sind dabei auch jene Romane – zu denken wäre etwa an Helena Adlers „Die Infantin trägt den Scheitel links“ (2020), Maxi Obexers „Unter Tieren“ (2024) oder Julia Josts „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ (2024) –, die sich mit post-bäuerlichen Lebenswelten und -entwürfen beschäftigen. Findet sich vor diesem Hintergrund womöglich auch ein neuer ‚Bäuerinnenroman‘ konstituiert, der nicht nur mit gängigen Geschlechterverhältnissen und -zuschreibungen, sondern ebenso mit traditionellen Stoffen und Erzählmustern, zumal in ihren traditional eher patriarchal, auch national bis völkisch orientierten Ausformungen, bricht? Hier wären auch im historischen Vergleich – quasi: von Franz Michael Felder über Knut Hamsun und John Berger bis zu Reinhard Kaiser-Mühlecker – die zentralen Themenfelder und Erzählverfahren bäuerlicher Romane herauszuarbeiten und zueinander in Beziehung zu setzen. Es geht dabei nicht nur um die spezifischen Wirklichkeitsbezüge der Texte, sondern auch um ihre Stellungen und Funktionen in übergreifenden diskursiven und sozialen Strukturen; ist doch etwa mit Blick auf die Gegenwart auffällig, dass Autor/innen (nicht nur) mit ihren Werken engagiert Position ergreifen und Fürsprache halten. Dabei divergieren, wie etwa Juli Zehs Solidarisierung mit den „Freien Bauern“ oder María Sánchezʼ („Land der Frauen“, 2019) Einsatz für einen ruralen Feminismus zeigen, die politischen Kontexte und Standpunkte. Wer engagiert sich, so wäre also auch zu fragen, in welcher Weise (und für was konkret) mittels Literatur – und darüber hinaus – in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen?
Dabei sind die literarischen Texte im intermedialen Zusammenhang zu betrachten. Wie und wo ist der Bauernroman hier zu verorten? Ergänzt, komplementiert, bereichert er die Erkenntnisse aus der qualitativen Sozialforschung, aus dokumentarischen Berichten, Autobiographien und/oder Podcasts etc.? Wo liegen die Trennungslinien zwischen vermeintlich klischee- und stereotypenhaften, populär-realistischen Erzählungen (siehe Moritz Baßlers Kritik am sog. Midcult und seinen unterkomplexen Darstellungen) und plausiblen, fakten- und recherchebasierten Erzählungen? Gibt es den modernen Gegenwartsbauernroman, der sich vom erfolgreichen Dorf- und Landroman absetzt, gerade weil Bauern und Bäuerinnen als Protagonist/innen fungieren und der Hof zum zentralen Schauplatz der Handlung wird und nicht nur als pittoreske Kulisse dient? Weil er Einblick gewährt in die komplexe Lebens- und Arbeitswelt des Bauernstandes. Oder greift der Bauernroman aufgrund der sozioökonomischen Verflechtungen von Stadt und Land grundsätzlich zu kurz? Welche Werke sind keine Bauernromane, geben aber dennoch lesenswerte, interessante Einblicke in die bäuerliche Lebenswelt? Beispiele sind im literarischen Bereich Michel Houellebecqs „Serotonin“ (2019) oder insbesondere autobiographisch geprägte Sachbücher wie Uta Runges „Bauern, Land“ (2020), Ewald Fries „Ein Hof und elf Geschwister“ (2023) sowie James Rebanks „Mein englisches Bauernleben: Die Farm meiner Familie und das Verschwinden einer alten Welt“ (2021) und „Mein Leben als Schäfer“ (2017). Zu thematisieren wären darüber hinaus aber auch die Motive, warum beispielsweise Klimawandel, mafiöse Verstrickungen der Agrarlobby, intransparente Agrarpolitik zu Gunsten weniger Profiteure, Verwerfungen und Konfrontationen aufgrund divergierender Interessen und Einstellungen innerhalb der Bauernschaft bisher ebenso selten literarisch aufgegriffen wurden wie Utopien oder Dystopien zukünftiger Entwicklungen. Nicht zuletzt sind dies auch die Themen und Fragen, die in anderen Medien, vom Comic bis zu TV-Serien, vom Fernsehkrimi und Unterhaltungsgenre bis zu Arthouse Filmen, vom „Krautrock“ bis zu Country/Americana, aufgenommen werden und in deren Formen und Ausgestaltung zugleich durchaus aktuelle Themen und gesamtgesellschaftlich relevante Fragen und Probleme zur Diskussion gestellt und als mögliche Handlungsfelder modelliert werden.
Vor diesem Hintergrund, und anschließend an eine erste Veranstaltung 2023, thematisiert der Workshop am Institut für Regionalentwicklung von Eurac Research in Bozen historische und zeitgenössische Bauernromane und Bauerngeschichten im intermedialen Vergleich. Diskutiert werden dabei u.a. ihre Rolle und Bedeutung als Medien einer realitätsnahen Darstellung des jeweils zeitgenössischen Bauernstandes, der bäuerlichen Gesellschaft und des Alltags im ländlichen Raum sowie darüber hinaus. Zu Gast sein wird dabei auch die Autorin Jarka Kubsova für eine Lesung und ein Podiumsgespräch.
Wir bitten um Abstracts (max. eine Seite) für einen 20-minütigen Vortrag inkl. einer kurzen biographischen Notiz mitsamt Kontaktdaten bis zum 30.06.2025 per E-Mail an:
Thomas Streifeneder: thomas.streifeneder@eurac.edu
Marc Weiland: marc.weiland@uni-goettingen.de
Werner Nell: nellw@queensu.ca
Eine anschließende zeitnahe Publikation der Ergebnisse des Workshops ist in der Reihe Rurale Topografien (Transcript) geplant.
Forschungsgebiete
Organisation
Eurac ResearchVeröffentlicht am: 19.05.2025
Letzte Änderung: 07.06.2025, 19:47
Vorgeschlagene Zitierweise:
"Bauerngeschichten. Bauern und bäuerliche Lebenswelten in aktuellen Erzählungen und Diskursen, Bozen" (CfP/CfA Veranstaltungen), avldigital.de, veröffentlicht am: 19.05.2025. https://avldigital.de/de/vernetzen/fachinformationen/call-for-papers/bauerngeschichten-bauern-und-bauerliche-lebenswelten-in-aktuellen-erzahlungen-und-diskursen-bozen