Artifizielle Kreativität?
Artifizielle Kreativität?
Zu Künstlicher Intelligenz und Kreativität in der Literaturwissenschaft und Didaktik im Verhältnis von Schreibprozessen
„Kreativität ist eine Eigenschaft des Lebendigen, eine alltägliche Aufgabe und eine dämonische Kraft.“ (Holm-Hadulla, 2000, S. 1) Mit diesen Worten beginnt Rainer M. Holm-Hadulla seinen herausgegebenen Sammelband zum Thema ‚Kreativität‘, in welchem Wissenschaftler aus zehn Disziplinen (u.a. Medizin, Philosophie, Literaturwissenschaft, Ästhetik, Psychologie etc.) ‚Kreativität‘ aus unterschiedlichen Blickwinkeln durchleuchten. Diese aus dem Jahr 2000 stammende Definition für ‚Kreativität‘ berücksichtigt allerdings noch nicht die revolutionäre Welle innovativer Anwendungsoptionen, die sich mit Programmen wie ChatGPT, DALL-E oder Sora ergeben haben. Ist ‚Kreativität‘ angesichts dieser neuen Entwicklungstrends wirklich nur noch eine ausschließlich menschliche bzw. lebendige Eigenschaft? Wirft man einen Blick auf die Etymologie des Wortes ‚Kreativität‘, lat. ‚creare, procreare‘ , so lässt sich der Begriff mit Constanze Kirchner folgendermaßen definieren: Kreativität ist eine „gestaltende Tätigkeit des Geistes, der schöpferischen Fantasie und des Imaginationsvermögens.“ (Kirchner, 2016, S. 79) Kirchner argumentiert hinsichtlich des kreativen Prozesses weiterhin, dass sich kreatives Verhalten „durch Fähigkeiten [auszeichnet], die eine kreative Person besitzen sollte: u.a. Aufmerksamkeit für ein Problem, Assoziationsfähigkeit, flüssiges Denken, Originalität, Unkonventionalität, Flexibilität, Fähigkeit zum Umdenken, Spontaneität, Mut, Ausdruckswille, Innovation, Experimentierfreude, Fähigkeit zur Analyse und Synthese, Durchhaltevermögen, Konflikttoleranz und Humor.“ (Kirchner, 2016, S. 79f.) Dieser Katalog an kreativen Fähigkeiten lässt sich weiterführen, verdeutlicht jedoch die Schwierigkeit, die einzelnen Begriffe an einen maschinellen Algorithmus rückzukoppeln.
Künstliche Intelligenz gilt als zukunftsweisende Technologie, die menschliche Fähigkeiten, Lernprozesse, logisches Denken und kreative Arbeitsweisen imitieren kann. KI ermöglicht das Lernen aus Erfahrung und die Adaptation des Erlernten an bisherige Wissenskomplexe (Europäisches Parlament, 2020). Die fortschreitende Technologisierung und die kontinuierliche Weiterentwicklung von Künstlicher Intelligenz verändert nicht nur die Art und Weise wie wir kommunizieren (und damit einhergehend auch unsere Freizeit- und Lebensweise), sondern auch explizit Schreibprozesse in Literatur und Schule. Bereits in unserem alltäglichen Gebrauch verwenden wir Künstliche Intelligenz zur Unterstützung individueller Schreibprozesse: Autokorrektur und Autocomplete, Spracherkennung und Sprachausgabe, Übersetzungssysteme wie DeepL oder Google Translate.
Hannes Bajohr beschreibt in seinem Aufsatz Künstliche Intelligenz und digitale Literatur. Theorie und Praxis konnektionistischen Schreibens aus dem Jahr 2021 den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Literaturproduktion als Co-Creative Writing zwischen Menschen und Maschine (Bajohr, 2021, S. 175). Ebenfalls kann Künstliche Intelligenz, so Bajohr, „ganz explizit und poetologisch bewusst zur Produktion von Literatur verwendet werden.“ (Bajohr, 2021, S. 175) So wäre ein Beispiel dieser bewussten Literaturproduktion der per KNN generierte Roman 1 on the Road aus dem Jahr 2018; das erste von einer Künstlichen Intelligenz geschriebene Buch überhaupt. Allerdings muss dabei erwähnt werden, dass Ross Godwin, der als Input-Geber der KI eine wichtige Rolle einnimmt, diese künstliche neuroyale Netz(werk)e mit Daten in Form von Kameras, Mikrofonen und GPS ausstattete. Demnach wäre nicht damit zu argumentieren, dass eine KI selbstständig – ohne jeglichen Input eines Menschen – dieses Buch geschrieben hätte, sondern lediglich als eine Art Symbiose von KI und Mensch zu beschreiben. Zwar scheint 1 on the Road ein digitaler Durchbruch zu sein, aber Programmcodes mit formalisierten Algorithmen, die “Literatur” produzieren, gibt es bereits seit 1952. Christopher Strachey generierte mit dem Manchester University Computer seinen „Love Letter“ nach folgendem Code:
(1) “My – (adj.) – (noun) – (adv.) – (verb) your – (adj.) – (noun)”
(1*) “My sympathetic affection beautifully attracts your affectionate enthusiasm.”
Dieser Algorithmus basiert jedoch keinesfalls auf einer ‚menschlichen Kreativität‘, sondern „lediglich auf eine® Abfolge von eindeutigen Regelschritten“ (Bajohr, 2021, S. 175), so Bajohr. Durch die Implementierung von KI-Tools können auch Lernende im Deutsch- und Fremdsprachenunterricht mit der KI in einen Prozess des Co-Creative-Writing treten; hierbei entstehen Texte, die zusammen mit der KI geschrieben und modifiziert werden. Die Integration von Künstlicher Intelligenz in den Schreibprozess der Lernenden öffnet Debatten über neue Schreibkompetenzen, kreative Schreibaufgaben und den kreativen Umgang mit Texten im schulischen Unterricht und in der literaturwissenschaftlichen Disziplin im universitären Kontext.
Die Tagung Artifizielle Kreativität? Zu Künstlicher Intelligenz und Kreativität in der Literaturwissenschaft und Didaktik im Verhältnis von Schreibprozessenfragt danach, ob im digitalen Zeitalter von Kreativität im bisher angenommenen Sinne gesprochen werden kann (s. den Definitionsvorschlag im nächsten Abschnitt), oder sich der Begriff im Kontext von Künstlicher Intelligenz im Hinblick auf literaturwissenschaftliche und -didaktische Konzepte verändert hat.
Wie sehen die Neuerungen im Schreibprozess und deren Reflexion auf Seiten von Autoren und Lernenden aus? Wie kann und muss kreative Arbeit mit und an Literatur neu gedacht werden?
Mögliche Fragen und Themenschwerpunkte
Die Tagung möchte hinsichtlich dessen u.a. folgende Themenschwerpunkte und Fragen eruieren, um dem Problemfeld ‚Artifizielle Kreativität‘ in der Literaturwissenschaft und in fremdsprach- bzw. literaturdidaktischen Perspektiven näherzukommen.
1. Inwiefern lässt sich in Bezug auf Kreativität und Künstliche Intelligenz ausschließlich von einem Co-Creative-Prozess sprechen oder kann Künstliche Intelligenz eigenständig kreativ sein?
2. Darf man im Zeitalter der Digitalität und im Kontext von Künstlicher Intelligenz vom gängigen Kreativitätsbegriff sprechen, der ursprünglich Menschen (oder höchstens lebendigen Organismen) zugesprochen wird? Welche Rolle übernimmt der Begriff der Intelligenz in Kombination mit dem „Künstlichen“ bzw. „Artifiziellen“?
3. Welche Bedeutungen übernehmen kreative Schreibprozesse/Arbeitsprozesse in digitalen Zeitaltern in modernen Lern-Lehr-Settings? (Auch interdisziplinäre Perspektiven auf kreative Arbeitsprozesse und den Kreativitätsbegriff z.B. aus den Musikwissenschaften und der Kunstgeschichte sind erwünscht)
4. Inwiefern lassen sich kreative Schreibaufgaben heute noch in den Fremdsprachen- bzw. Literaturunterricht implementieren? Welchen Stellenwert werden Kreativität und Schriftsprache in zukünftigen Lehr-Lernsettings annehmen?
5. Wie könnte Co-Creative-Writing zwischen Mensch und Künstlicher Intelligenz bewertet werden?
Wir freuen uns daher über Vorschläge für Vorträge an der am 13. Dezember stattfindenden Online-Tagung der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main!
- Abstracts für ca. 25-minütige Vorträge (mit anschließender 15-minütigen Diskussion) sollen bis zum 10.10.2024 an korell@em.uni-frankfurt.de und p.albrecht@em.uni-frankfurt.de übermittelt werden.
- Die Entwürfe sollen nicht länger als eine Seite (TNR, Arial, Calibri, Schriftgröße: 12, Zeilenabstand 1,5) sein.
- Beiträge von NachwuchswissenschaftlerInnen sind ausdrücklich erwünscht.
Verwendete Literatur
Bajohr, Hannes (2021). „Künstliche Intelligenz und digitale Literatur. Theorie und Praxis konnektionistischen Schreibens“, in: Digitale Literatur II, Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur, hrsg. v. Hannes Bajohr und Annette Gilbert, S. 174-185.
Europäisches Parlament (2020). „Was ist künstliche Intelligenz und wie wird sie genutzt?“ [online] https://www.europarl.europa.eu/topics/de/article/20200827STO85804/was-ist-kunstliche-intelligenz-und-wie-wird-sie-genutzt (zuletzt abgerufen am 20. Juli 2024)
Holm-Hadulla, Rainer M. (2000). „17 Wege zur Kreativität – Ein Überblick“, in: Kreativität, hrsg. v. Rainer M. Holm-Hadulla, S. 1-20.
Kirchner, Constanze (2016). „Kreativität, in: Kunstpädagogische Stichworte“, hrsg. v. Manfred Blohm, S. 79-82.
Weiterführende Literatur
Bajohr, Hannes (2021). „Künstliche Intelligenz und digitale Literatur. Theorie und Praxis konnektionistischen Schreibens“, in: Digitale Literatur II, Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur, hrsg. v. Hannes Bajohr und Annette Gilbert, S. 174-185.
Barthes, Roland (2006). „Vom Werk zum Text“, in: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV).
Holm-Hadulla, Rainer M. (2000). „17 Wege zur Kreativität – Ein Überblick“, in: Kreativität, hrsg. v. Rainer M. Holm-Hadulla, S. 1-20.
Kirchner, Constanze (2016). „Kreativität“, in: Kunstpädagogische Stichworte, hrsg. v. Manfred Blohm, S. 79-82.
Baumgärtel, Tilman (2017). „Netzkunst und Post-Internet-Art“, in: Texte zur Theorie des Internets, S. 334-341.
Gramelsberger, Gabriele (2021). „Hermeneutik der Maschinen und Maschinenalgorithmen“, in: Hermeneutik unter Verdacht, hrsg. v. Andreas Kablitz, Christoph Markschies und Peter Strohschneider, S. 23-44.Landow, George P. (1992). Hypertext. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology.
Magirius, Marco & Scherf, Daniel (2024): „Studierende interpretieren Gedichte mit ChatGPT –Chancen und Herausforderungen von KI-Tools im Lehramtstudium Deutsch“, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4/2024, Jg. 70, S. 406-415.
Meerhoff, Jasmin (2021): „Verteilung und Zerstäubung. Zur Autorschaft computergeschützer Literatur“ , in: Digitale Literatur II, Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur, hrsg. v. Hannes Bajohr und Annette Gilbert, S. 49-61.
Passig, Kathrin (2021): „Wenn man nicht alles selber schreibt. Sieben Gründe für das Generieren von Texten“ , in: Digitale Literatur II, Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur, hrsg. v. Hannes Bajohr und Annette Gilbert, S. 120-133.
Söffner, Jan (2021): „Sinn und Sinnlosigkeit. Die Frage nach der Stellung der Hermeneutik im
Zeitalter der künstlichen Intelligenz“, in: Hermeneutik unter Verdacht, hrsg. v. Andreas Kablitz, Christoph Markschies und Peter Strohschneider, S. 1-22.