Anonymität in Briefen des 18. und 19. Jahrhunderts, Halle/Saale
Subject Fields: Cultural History / Studies,, Digital Humanities,, German History / Studies,, Literature
Call for Papers:
Anonymität in Briefen des 18. und 19. Jahrhunderts
Workshop, 4. bis 5. April 2024, IZEA, Halle (Saale)
Organisation und wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Elisabeth Décultot, PD Dr. Jana Kittelmann, Prof. Dr. Stephan Pabst
Epistolare Anonymität ist im Gegensatz zu anonymer Autorschaft bislang kaum untersucht worden. Das hat seinen Grund. Auf den ersten Blick scheint Anonymität für epistolares Schreiben keine große Relevanz zu besitzen. Im Gegensatz zu publizierten Texten weiß man in Briefwechseln fast immer, mit wem man es zu tun hat. Persönliche und konkrete Adressierung ist eine Voraussetzung für das Versenden und Empfangen von Briefen. Foucaults (nicht nur) in der Briefforschung viel diskutiertes Statement, dass ein Brief keinen Autor, sondern vielmehr einen Unterzeichner („signataire“) habe, unterstützt diese Annahme.
Doch ist das wirklich so? Bietet der private Brief in seiner medialen Flexibilität und Mehrdimensionalität neben vielfältigen Möglichkeiten der Variation und Inszenierung des eigenen Selbst nicht auch Gradierungen der Anonymität Raum? Und zwar im Sinne einer Vorläufigkeit, partiellen Identifikation und Adressierung unterschiedlicher Personenkreise, denen der Name von Autor:innen, Verfasser:innen, Werken oder anderen Entitäten eben bekannt ist oder nicht? Und selbst wenn Anonymität von Briefen und in Briefen nur ein marginaler Fall wäre, was erfahren wir in ihnen über die Praxis der Anonymisierung?
Hier will der Workshop ansetzen und das Phänomen von Anonymität in Briefen in den Blick nehmen und diskutieren. Nach dem Verhältnis von öffentlicher Anonymität und privater bzw. nicht-öffentlicher Kommunikation sowie der Durchlässigkeit zwischen epistolarer und gedruckter Kommunikation soll dabei ebenso gefragt werden wie nach spezifischen Strategien der Anonymisierung in Briefen. Lassen sich Motive und Praktiken des anonymen Schreibens ausmachen, die anderen Voraussetzungen unterliegen als in gedruckten Werken und die sich in den publizierten Texten nur noch bedingt mitteilen oder gezielt falsch mitgeteilt werden? Inwiefern gehören solche Verfahren zu einer Politik der Anonymität/Onymität, in dem Sinne, dass sich Briefschreiber:innen bzw. Autor:innen nicht nur schützen, sondern Rezeptionsprozesse steuern, Aufmerksamkeit durch die Spekulation über Autorschaft generieren, Exklusivität bestimmter Adressat:innen erzeugen, Macht durch Anonymität ausüben oder Machtlosigkeit dadurch kompensieren? Darüber hinaus kann man sich fragen, wie Anonymität hergestellt und wie sie identifiziert wird, z. B. protostilometrisch, anhand von Handschriften, Personenmerkmalen oder Netzwerken, in denen bestimmte Personen agieren? In Bezug auf die Handschrift käme systematisch relevant dann auch die Materialität bzw. die Physiologie des Briefes ins Spiel, da die Differenz zwischen der eigenen Handschrift und der eines Schreibers zu den Formen der Enthüllung und Verhüllung der Autor:innenschaft gehört und sich demnach als strukturelle Variation des Mündlichkeits-Schriftlichkeitsproblems präsentiert, insofern es jeweils um die physische Präsenz des Autors/der Autorin geht, die zugunsten der Anonymität getilgt werden muss.
Zu fragen wäre auch, inwiefern Anonymität im Brief selbst als Phänomen/Praxis in Form eines Austauschs über die Anonymisierung/Onymisierung bzw. Verschlüsselung/Entschlüsselung von Personennamen bzw. personenbezogenen Inhalten thematisiert wird. Dabei scheint nicht zuletzt die ‚sozialperformative‘ Dimension der Anonymität in Briefen mit Bezug auf den Bourdieu’schen Begriff der „Distinktion“ bedeutsam zu sein: Anonymisierung ermöglicht die Schaffung von unterschiedlichen Leser:innen-Kreisen. So können diejenigen Leser:innen, die trotz Anonymität um die verhandelten Personen-Namen wissen, von denjenigen unterschieden werden, für die Anonymität nicht entschlüsselbar bleibt.
Der Workshop findet im Rahmen des DFG-Projekts „Der deutsche Brief im 18. Jahrhundert. Aufbau einer Datenbasis und eines kooperativen Netzwerks zur Digitalisierung und Erforschung des deutschen Briefes in der Zeit der Aufklärung“ statt. Demnach sollen in dem Workshop auch die damit verbundenen Herausforderungen für die digitale Erschließung und Edition von Briefen diskutiert werden. Wie annotiert man Anonymität? Wie gehen verschiedene Anwendungsbereiche der DH mit dieser zunächst paradox erscheinenden Herausforderung um, etwas annotieren zu müssen, das nicht identifizierbar zu sein scheint? Identifikatoren für Personen, Orte oder Werke sind immer an konkrete Funktionen, Instanzen und Gegenstände gebunden. Welche Möglichkeiten gibt es dennoch, Anonymität bzw. anonyme Verfahren in Briefen elektronisch auszuzeichnen und abzubilden?
Fallstudien zu einzelnen Briefkorpora und Editionen sind ebenso willkommen wie systematische Beiträge. Für die Vorträge ist eine Redezeit von 30 min + 15 min Diskussion vorgesehen. Reise- und Übernachtungskosten werden übernommen.
Beitragsvorschläge (Titel, kurzes Abstract) senden Sie bitte bis 31.8.2023 an: jana.kittelmann@izea.uni-halle.de
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