CfP/CfA Veranstaltungen (Vor Ort)

Die Freiheit der Formen – literarisch, ästhetisch, politisch, Bonn


Veranstaltungsdatum:

18.06.2026-19.06.2026

Deadline Abstract:

31.08.2025

Die Freiheit der Formen – literarisch, ästhetisch, politisch

Timothy Attanucci (Mainz) und Franziska Jekel-Twittmann (Bonn)

Der Weg zur Freiheit führt über die Form. Diese zunächst paradox anmutende These ist konstitutiver Teil der europäischen Geistesgeschichte, wie sie Ernst Cassirer in seiner Studie Freiheit und Form 1916 beschrieben hat. Ästhetische und philosophische Debatten, die konsequent Freiheit und Form zusammendenken, werden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert besonders engagiert im Bereich der Literatur ausgetragen, da Formen hier nicht nur thematisiert, sondern gleichzeitig auch konkret umgesetzt und reflektiert werden. Die literarische Beschäftigung mit dem Themenkomplex Freiheit und Form ruft ausnehmend aufschlussreiche Korrelationen, Verknüpfungen und Spannungen auf den Plan, die Probleme der philosophischen Ästhetik produktiv aufnehmen und weiterentwickeln. 

Während im Rahmen (politischer) Theoriebildung der Versuch unternommen wird, Freiheit begrifflich zu definieren und damit zu fixieren, spielt die Literatur mit der Form – und das macht frei. Dieser Arbeitsthese zur „Freiheit der Formen“ nachzugehen, heißt zunächst, die für gesellschaftliche Diskurse konstitutive ästhetische Distanznahme in ihren verschiedenen Ausprägungen zu berücksichtigen (vgl. Rebentisch 2011). Es bedeutet aber auch und insbesondere, den Begriff der Form in Frage zu stellen, der ohne Gegenbegriffe wie Inhalt, Materie, Stoff oder Medium ebenso vieldeutig ist wie der Begriff der Freiheit. Am konkreten Beispiel literarischer Texte wird zunächst deutlich, dass das Begriffspaar Freiheit und Form sich keineswegs einfach auf den Gegensatz Form/Inhalt übertragen lässt. So steht z.B. in Schillers Wilhelm Tell die inhaltliche Darstellung eines Freiheitskampfes einem streng eingehaltenen Versmaß gegenüber. Dagegen findet die Freiheitsehnsucht des romantischen Helden sein Äquivalent in der ungebundenen Form des Romans. In der Gegenwartsliteratur greifen so unterschiedliche AutorInnen wie Jonathan Franzen (Freedom, 2010) und Marlene Streeruwitz (Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland, 2014) den Begriff der Freiheit auf. Freiheit avanciert bei Franzen zur poetologischen Sollbruchstelle, bei Streeruwitz dient sie hingegen als Utopie, die erst durch neue Systeme der Formalisierung denkbar ist. 

Diese Überlegungen zu Freiheit und Form stellen wir in einer Zeit an, in der der Begriff der Freiheit wieder zum zentralen Fixpunkt entscheidender Debatten avancierte: Die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine etwa riefen weitreichende Diskussionen um den Begriff der Freiheit auf den Plan. Im Kontext gegenwärtiger Debatten drängt sich außerdem die Frage auf, inwiefern die mathematische Formalisierung (die binäre „Form der Unterscheidung“ im Sinne Spencer-Browns) Konzepte kultureller und sexueller Differenz strukturiert und zementiert. Angesichts des Aufkommens von Sprachmodellen und Software-Produkten, die das Attribut der Intelligenz für sich beanspruchen, wird daher die Frage dringend, ob und inwiefern sich die Unterscheidung 0/1 als (die einzige?) relevante Form aufzwingt bzw. welche Abstufungen und Zwischenwege in von Künstlicher Intelligenz entworfenen Modellen denkbar sind und welche Freiheit im Rahmen dieser Form künftig möglich ist.

Vor diesem Hintergrund möchten wir die Frage nach der „Korrelation“ (Cassirer 2001, 390) zwischen Form und Freiheit erneut stellen. Gesucht sind Auseinandersetzungen mit historischen und aktuellen Beispielen aus literarischen und theoretischen Texten, die die Frage aufwerfen, inwiefern ‚Form‘ als frei/unfrei qualifiziert wird oder werden kann.

Beiträge können unter anderem die folgenden Fragenkomplexe adressieren: 

Kann Freiheit überhaupt in eine Form gefasst werden oder ist sie als Konzept das Gegenteil von Form?

Gibt es im Kanon der poetischen Formen – Versmaß, Textstruktur, Figur, Handlungsschema, Medienformat usw. – Formen, die (in bestimmten Kontexten) mehr oder weniger mit Freiheit verbunden sind? 

Welche Gattungsformen oder Konventionen korrelieren mit Darstellungen von persönlicher und/oder gesellschaftlicher Freiheit? 

Welche Wechselwirkungen zwischen literarischen Freiheitsformen und Konzepten von Freiheit und Form werden in der philosophischen Ästhetik entworfen? 

Wie wirkt sich der Fokus auf Freiheit und Form auf Übersetzungsdebatten aus? Wie wird die vielfach benannte Opposition zwischen möglichst ‚freier‘ Übersetzung und einer Orientierung an der formalen Gestaltung diskutiert und welchen gesellschaftspolitischen Gehalt transportieren diese Diskussionen? 

Welche Bedeutung hat die Korrelation zwischen Freiheit und Form für Debatten um Gender, Diversität, Inklusivität und Vielfalt? Wie könnte eine nicht heteronormative bzw. nicht binäre Theorie der Form aussehen?

Wie wirkt sich die zunehmende Digitalisierung auf die Fragen nach Freiheit und Form aus? Verfestigt sich die Form zu einem Kalkül des binären Codes? Welche Freiheiten sind noch möglich im „digitalen Ozean“ (Pourciau), oder führt der Weg zur Freiheit doch nur übers Analoge? Wie korrelieren Verfahren des digitalen Mediengebrauchs – Surfen, Chatten, Prompten – mit Freiheitserlebnissen und -zuschreibungen?

Und nicht zuletzt: Wie hat Unfreiheit (z.B. durch Zensur) Einfluss auf die Form literarischer Texte? Lässt sich die Untersuchung von Zensurregimen mit Blick auf ‚Form‘ neu perspektivieren? 

Die Konferenz findet am 18. und 19. Juni 2026 in Bonn statt. Übernachtung und Fahrtkosten können übernommen werden. Wir bitten um Abstracts (max. eine Seite) für einen ca. 35-minütigen Vortrag sowie eine kurze biographische Notiz bis zum 31.08.2025 an tattanuc@uni-mainz.de und jekel@uni-bonn.de.

 

Bibliographie: 

Cassirer, Ernst: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte. Text und Anmerkungen bearbeitet von Reinold Schmücker. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Birgit Recki. Hamburger Ausgabe. Band 7. Hamburg: Meiner, 2001. 

Franzen, Jonathan: Freedom. New York: Farrar, Straus and Giroux, 2010.

Pourciau, Sarah: On the Digital Ocean. In: Critical Inquiry 48 (2022), S. 233-261.

Rebentisch, Juliane: Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2011.

Streeruwitz, Marlene: Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland. Frankfurt am Main, 2014. 

Contact Information

Dr. Timothy Attanucci
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
FB 05 - Philosophie und Philologie
Deutsches Institut
Neuere deutsche Literaturwissenschaft
Jakob-Welder-Weg 18
55128 Mainz

Telefon + 49 6131 39-24749

Contact Email
tattanuc@uni-mainz.de

Veranstaltungsort

Bonn, Deutschland
Beitrag von: Redaktion avldigital.de
Veröffentlicht am: 27.06.2025
Letzte Änderung: 27.06.2025, 13:35

Vorgeschlagene Zitierweise:
"Die Freiheit der Formen – literarisch, ästhetisch, politisch, Bonn" (CfP/CfA Veranstaltungen), avldigital.de, veröffentlicht am: 27.06.2025. https://avldigital.de/de/vernetzen/fachinformationen/call-for-papers/die-freiheit-der-formen-literarisch-asthetisch-politisch-bonn