Konferenzen, Tagungen

Arendts Kritik am »archimedischen Punkt« – Erscheinungsraum einer nicht gegebenen Welt

Beginn
02.07.2021
Ende
03.07.2021

Ort: Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, Aufgang B, 3. Etage, Trajekteraum

Organisiert von Marita Tatari

Kontakt:Marita Tatari

ZfL-Projekt(e):Hannah Arendt, Friedrich Heinrich Jacobi und die Grenzen von Kunst unter postkolonialen Bedingungen

Der Standpunkt, von dem aus Hannah Arendt in Vita activa die Geschichte des Abendlands betrachtet, ist nicht leicht zu bestimmen. Ihre Bewunderung für das antike Griechenland und für das alte Rom, in denen sie das Politische, die Handlung und den Erscheinungsraum sieht, und ihre Kritik an der Weltlosigkeit in Christentum, Neuzeit und Moderne, sowie nicht zuletzt die Tatsache, dass ihr Werk auf verschiedenen Ebenen gelesen werden kann, haben manchmal zu einem Missverständnis geführt. Dem Missverständnis nämlich, dass Arendt im antiken Griechenland und im alten Rom ein Ideal, ja sogar, wie Margaret Canovan auf der ersten Seite ihrer Einführung in The Human Condition schreibt, einen archimedischen Punkt entdecken würde, von dem aus sie vertraute Denk- und Verhaltensweisen kritisiere.

Nichts aber kritisiert Arendts Vita activa heftiger als die Folgen der Entdeckung eines archimedischen Punkts, jener Entdeckung, durch welche die christlich-jüdische Heiligkeit des Lebens zum Leben als höchstem Gut wurde. Bezeichnenderweise ist dem Kapitel über die Neuzeit als Leitgedanke ein Kafka-Zitat vorangestellt, wonach der Mensch den archimedischen Punkt nur unter der Bedingung finden durfte, dass er ihn gegen sich selbst verwendet. Den utilitaristischen Folgen des archimedischen Punkts spürt Arendt sogar bis in Kants Formulierung nach, jeder Mensch stelle einen Zweck an sich dar, und findet sie auch in seiner Formel vom Wohlgefallen ohne Interesse, die den Umgang mit den »einzigen Dingen, die nicht Gebrauchsgegenstände sind, nämlich Kunstwerken« beschreibt. Die Schwierigkeit, den Standpunkt ihrer Kritik zu verorten, ohne Denkkategorien auf ihn anzuwenden, die ihm fremd sind – wie eben die des archimedischen Punkts –, betrifft grundsätzlich Arendts Ansatz, der keineswegs relativistisch ist und sich auch nicht wissenschaftlich-neutral gibt. Arendt steht für etwas, das sie auch von der Philosophie abgrenzt, und das es ihr nichtsdestotrotz erlaubt, sogar die politische Philosophie mit all ihren als selbstverständlich angesehenen Denkweisen neu zu betrachten.

Arendts Kritik sucht nicht nach Lösungen für die Aporien, die mit dem Autonomieanliegen des Abendlands von Beginn an – Griechenland und Rom nicht ausgenommen – einhergehen; unter den diversen kulturellen Bedingungen macht sie eine Haltung denkbar, die für den Erscheinungsraum einsteht, ohne seine Pluralität in ein Prinzip aufzuheben. Gerade weil Arendt ein Gemeinsames als Erscheinungsraum adressiert, ohne ein Maß vorauszusetzen oder prozessual ein Prinzip auf einen Horizont zu projizieren, ist das, was in ihrer Kritik und in ihrer Haltung auf dem Spiel steht, heute besonders von Relevanz.

In der durchtechnologisierten Gegenwart gerät das vom Abendland vorausgesetzte Eine oder Gemeinsame ins Wanken. Seine kolonialen Verblendungen und die ökologisch verheerenden Folgen seines Anthropozentrismus werden von vielen Seiten kritisiert und theoretische Alternativvorschläge zu Gegenwart und Geschichte entworfen, so z.B. im Rahmen von Neuen Materialismen. Und dennoch ist zu vermuten, dass aus Arendts Sicht solche Entwürfe eher von einer Steigerung jener Prozessualität zeugen würden, die der archimedische Punkt als aporetisches Autonomiestreben in Gang setzte. Es stellt sich die Frage, ob die gegenwärtige Destabilisierung des Einen sich auf eine solche Interpretation reduzieren lässt und ob sie nicht eher als Destabilisierung des archimedischen Punkts angesehen werden müsste. Eines steht fest: Unter veränderten Bedingungen besteht heute das Anliegen, ein Gemeinsames zu adressieren, fort – so zum Beispiel in den Künsten und der Literatur: als Erscheinungsraum oder als Welt, so vielfältig, offen und unbestimmbar diese auch gemeint sein mögen.

Die Tagung stellt Arendts Standpunkt zur Diskussion. Anstatt auf ihr Plädoyer für vita activa gegenüber vita contemplativa, oder für »Welt« und »Pluralität« gegenüber »Prozessualität« und »Leben« zu fokussieren, wird vielmehr gefragt: Wie oder wo wird ein Erscheinungsraum adressiert, wenn es nicht – wie für die griechische Polis – eine gegebene Welt gibt? Wie oder wo wird ein Gemeinsames adressiert, wenn nicht – wie in Neuzeit und Moderne – ein archimedischer Punkt vorausgesetzt wird?

Die Veranstaltung wird gefördert mit Mitteln der Alexander von Humboldt-Stiftung.

Programm

Freitag, 02.07.2021

I. Anfang

10.00–11.30

Marita Tatari (ZfL): Einführung: Arendts Standpunkt

Facundo Vega (Universidad Adolfo Ibáñez/ICI Berlin): Where Archimedes wished to stand: Arendt, Schürmann, and the Principle of Beginning

12.00–13.00

Niklaus Largier (UC Berkeley): Vita activa und vita contemplativa – Zur Unschärfe eines Paradigmas

 

II. Individuum

13.30–15.30

Oliver Koch (Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig/Ruhr-Universität Bochum): Jemand sein. Das vernünftige Individuum bei Jacobi und Arendt

Judith Siegmund (Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart): Archimedischer Punkt und Zweckbegriff in Arendts Handlungsentwurf und im Fall des künstlerischen Handelns

 

III. Sprache

16.00–18.00

Anne Eusterschulte (Freie Universität Berlin): Welt-Ferne und Verlust des Gemeinsinns. Arendts Reflexion auf den archimedischen Punkt als Sprachkritik

Eva Geulen (ZfL): Lying in art and politics

Samstag, 03.07.2021

IV. Prozessualität

10.00–12.00

Ross Gillum Shields (ZfL): The Aesthetics of Alienation: Hannah Arendt and Lord Chandos

Magdalena Zolkos (Frankfurt Memory Studies Platform/Goethe-Universität Frankfurt a.M.): The Archimedean Point, Earth-Alienation and the Possibility of Repair

12.15–13.15

Michaela Ott (Hochschule für bildende Künste Hamburg): Weltlosigkeit der Individuen, Zwangsgemeinschaften der Dividuation

 

V. In-Erscheinung-Treten

14.15–16.15

Helmut Draxler (Universität für angewandte Kunst Wien): Was erscheint im Erscheinungsraum? Arendt und die empirisch-transzendentale Dublette der Politik

Susanne Lüdemann (LMU München): Die Zuschauerin stellt sich zur Schau. Hannah Arendts Sehepunkte

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literatur und Kulturwissenschaften/Cultural Studies, Literatur und Philosophie, Literatur des 20. Jahrhunderts
Hannah Arendt

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Datum der Veröffentlichung: 15.03.2021
Letzte Änderung: 15.03.2021