Neuerscheinung: Land und Streit – Spuren der Nachlese (Judith Kasper)

Die letzten Ähren, die nach der Ernte noch übrig waren, wurden bei der sogenannten Nachlese von denjenigen aufgesammelt, die über keinen Besitz verfügten. Dieser vormoderne Gewohnheitsbrauch stiftet Judith Kasper zu einer Spurensuche an, in der sie sammelt und zusammenfügt, was andere haben fallen lassen.

In sechs lose gefügten und doch eng miteinander verflochtenen Teilen entfaltet sich ein lesendes Nachdenken entlang so unterschiedlicher Fundstücke wie der alttestamentarischen Geschichte Ruts, Karl Marx‘ kaum besprochenem Kommentar zur zunehmenden Unterbindung des Gewohnheitsrechts des Holzraffens nach der französischen Revolution, Balzacs unvollendetem Roman Die Bauern, und Flauberts Madame Bovary, der großen Sammelarbeiten der Philologie des 19. Jahrhunderts (Die Kinder- und Hausmärchensammlung der Gebrüder Grimm, Émile Littrés Wörterbücher und Ferdinand de Saussures Anagrammstudien) – all dies mit einer psychoanalytischen Aufmerksamkeit auf vermeintlich Nebensächliches, Nichtiges, Unsinniges. Der Ährensammlerin wird in der französischen Malerei, bei Jean-François Millet und Jules Breton, ein fast ikonisch, revolutionär anmutendes Bild gegeben, das auch Agnès Varda inspiriert aufgreift und in dessen Fluchtlinie zeitgenössische ökofeministische Denkansätze greifbar werden.

Die Nachlese offenbart sich hier als eine politisch radikale und stets mehrdeutige Praxis, als ein poetischer und ethischer Gegenentwurf zur christlichen Gabe, die immer auch einen Gebenden voraussetzt. In kurzen, längeren und kürzesten Texten kreist dieser Essay um die Notwendigkeit, immer ein klein wenig zurückzulassen, damit andere es auflesen können.

Judith Kasper: Land und Streit – Spuren der Nachlese
Matthes & Seitz Berlin 2024 | 22 € / 239 Seiten | ISBN 978-3-7518-2025-7


Über den Autor

Larissa Krampert

Mehr Beiträge dieses Autors

Bemerkungen

Keine Kommentare

Kommentar schreiben

Kommentare geschlossen