Alles fließt. Fluides in Literatur und anderen Medien, Universität Paderborn, 10./11. Oktober 2024 (Studentische Tagung des Fachbereichs Komparatistik/Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Paderborn)
Call for Papers: Alles fließt. Fluides in Literatur und anderen Medien, Universität Paderborn, 10./11. Oktober 2024 (Studentische Tagung des Fachbereichs Komparatistik/Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Paderborn)
Die im Folgenden skizzierten Zusammenhänge bieten Anschlusspunkte für zahlreiche mögliche Forschungsfragen, die im Rahmen der studentischen Tagung präsentiert und diskutiert werden können. Beiträge können sich z.B. mit Stoffen, Motiven und Themen des Fluiden beschäftigen, mit dessen Räumen und Zeiten, Gattungen, Medialitäten und Materialitäten, Metaphoriken, Poetiken und kulturwissenschaftlichen oder philosophischen Konzeptionen. Dabei sind die Gegenstände, seien sie literarischer oder anderer medialer Ausrichtung, sowohl hinsichtlich historischer wie gegenwärtiger Motivierungen des Fluiden offen.
Stoffe, Motive, Themen: Die Literatur der 2020er Jahre weist auffällig viele Bezüge zu Meeren, Meerestieren und Bildfeldern des Wassers auf: Marie Gamillschegs Aufruhr der Meerestiere (2022), Theresia Enzensbergers Auf See (2022), Dörte Hansens Zur See (2022), Luca Kiesers Weil da war etwas im Wasser (2023), Natascha Wodins Der Fluss und das Meer (2023) und Patrik Svenssons Chronistin der Meere (2023) sind nur einige Beispiele. Das Wasser, sei es als Meer, See oder Fluss, und seine Geschöpfe, sowohl solche faktualer (wie Seepferdchen, Qualle, Koi, Barbe und Wal) als auch mythologischer (Najaden, Klabautermänner, Leviathan, Undine) Natur, bevölkern die Gegenwartsliteratur. Woher rührt das aktuelle Interesse am Aquatischen und Fluiden? Zu fragen wäre zunächst nach motivgeschichtlichen Traditionen, die sich bis in die Antike, die mittelalterliche Literatur oder die Literatur der Romantik (vgl. Walter Pape: Romantische Metaphorik des Fließens. Körper, Seele, Poesie (2007)) zurückverfolgen lassen, aber auch nach ihrer Intertextualität und -medialität, nach gleichbleibenden und sich wandelnden Symboliken. In diesem Kontext ist außerdem das prominente Motiv der Schifffahrt zu verorten, das von Homer (Odyssee) über die Bibel (Noah, Jona), die Robinsonade, (koloniale) Entdeckungsreisen, zur Exil- und Fluchtliteratur (Wasser als gefährlicher internationaler Transitort wie im Film La Pirogue (2012)), bis hin zu Kreuzfahrtschiffen (David Foster Wallace: A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again (1997)) und Flussreisen (Jana Volkmann: Auwald (2020)) reicht.
Gender und Queer Studies: Wasser und Weiblichkeit stehen mit Eros und Tod in einer langen motivgeschichtlichen Verbindung (Ophelia, Wasserfrauen, Meerjungfrauen), auch Wasser- und Flussgöttinnen und -geister sind in vielen Kulturen bekannt (Mami Wata, Ganga). Konstruktionen von Gender und Fluidität (z.B. im Blut, Meeresschaum und Sperma) wären zu hinterfragen. Gegenwärtig finden wir auch geschlechtlich kodierte Konstellationen von Monstrosität, Erotik und Fluidität wie in Guillermo del Toros Spielfilm The Shape Of Water (2017). Der Kampf der Kultur gegen die Natur (in Form des Meeres bzw. seiner Tiere) als männlich kodiert findet sich beispielsweise in Moby Dick (1851) oder The Old Man and the Sea (1952) und der kulturgeschichtlichen Heroisierung von Männlichkeitsbildern bei Seefahrern, Explorern und Abenteurern, die sich auf den Wasserwegen des Planeten beweisen. Programmatik und Ästhetik des Fluiden fließen in der Gegenwartsliteratur, wie in Sasha Marianna Salzmanns Roman Außer sich (2017) oder Kim de l’Horizons Roman Blutbuch (2022), thematisch, erzählerisch und sprachlich zusammen, sie erschreiben multiple Sprach- und Körperidentitäten, in denen das Fluide Starrheit und Festigkeit von Herkunft und Geschlecht subvertiert. Astrida Neimanis Hydrofeminism an der Intersektion von Feminismus und Environmental Humanities wie in Bodies of Water (2017) macht eine radikale Kollektivität unter der Prämisse der gemeinsam-fluidalen Körperlichkeit von Mensch und Umwelt stark. Thomas Meinecke entwickelt unter dem Titel Ozeanisch schreiben »drei Ensembles zu einer Poetik des Nicht-Binären« (2022). Digitale Körper/Räume sind weitere denkbare Ausprägungen des Fluiden aus gender- und queertheoretischer Perspektivierung.
Transkulturalität: Natur- und Kulturgeschichte überschneiden sich in und an Flüssen, das wusste schon Hölderlin in seiner Donau-Hymne Der Ister (um 1803). In der Gegenwart finden wir dies wieder in Fragen von Deindustrialisierung und Renaturierung, beispielsweise in der Ruhrgebietsliteratur wie Barbara Köhlers 42 Ansichten zu Warten auf den Fluss (2017). Immer schon und immer wieder fungieren Flüsse als Marker historisch-politischer Grenzen (»Donaumonarchie«) und Grenzverschiebungen, insbesondere im mittel- und osteuropäischen Raum. So sinniert die polnische Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk über Die Macht der Oder (2003). Damit sind Flüsse immer auch verbunden mit Migration, mit Transkulturalität und Translation. Literarische Transpositionen solcher Grenzflüsse machen ein Denken von Grenzüberschreitung möglich, verschieben oder subvertieren Zeit- und Raumordnungen, eröffnen neue Denkbewegungen. Kategorien des Fluiden werden auch immer wieder angebracht in postmigrantischen und postkolonialen Kontexten. In ihren Hamburger Poetikvorlesungen Fremde Wasser (2012) entwickelt Yoko Tawada eine interkulturelle Poetik des Fluiden. Diasporische und postkoloniale Literaturen lassen sich mit Konzepten des Fluiden und Ansätzen des Dazwischen (Third Space) als produktive Instabilität der Bewegunglesen.
Gattungen, Formen und Verfahren: Hochwasser und Niedrigwasser, Überschwemmungen, starke Regenfälle und Dürreperioden, Wasserknappheit, schmelzende Polkappen, in den Ozeanen schwimmender (Plastik-)Müll prägen im Kontext von Klimawandel und Globalisierung den ökologischen Diskurs der Gegenwart. Auch literarische Formen und Verfahren des Nature Writing sowie der Climate Change Fiction und Ansätze der Environmental Humanities wie Ecocriticism sowie das Feld der Blue Humanities greifen die Folgen menschlichen Handelns für den Planeten auf. Die Flussbiografie als eigenständige Gattung entsteht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und eröffnet Fragen nach der agency des Fließgewässers. In welchen Gattungen ist das Fluide prävalent? Wie lässt sich Natur- und Klimaliteratur hinsichtlich der Kategorie des Fluiden lesen? Wie stellen Literaturen des Fluiden (menschliche wie nicht-menschliche) Akteur*innen dar, die Einfluss auf Veränderungen der Umwelt nehmen oder gar Widerstand leisten? So fungiert das Bildfeld des Fluiden mal als Gefahr (vgl. etwa Astrid Dehes und Achim Engstlers Auflaufend Wasser (2013)), ist aber auch als Motiv, Strategie oder Allegorie emanzipatorischer Bestrebungen lesbar (z.B. in Rivers Solomons Roman The Deep (2019)).
Dabei ist das Fluide alles andere als ein genuin literarisches Phänomen, sondern ein transmediales, denkt man z.B. an Flow oder Streaming oder ganz grundsätzlich an die bewegten Bilder des Kinos. Theater- und Filmästhetiken des Fluiden (Franziska Heller) stehen zur Disposition ebenso wie grundsätzliche Fragen nach Medialität und Materialität des Fluiden wie in Melody Jues Wild Blue Media: Thinking through Seawater (2020). Auch die Feeds und Stories sozialer Medien, in denen zunehmend nicht nur Literatur und Kunst geteilt, sondern genuin produziert wird, unterliegen in ihren Strukturen dem Fluiden, Dynamischen und Nicht-Linearen. Welche Medien produzieren fluide Ästhetiken? Welche Erzähltechniken und Darstellungsweisen des Fluiden kennen diverse mediale Formate? Wie figurieren unterschiedliche mediale Gattungen Übergang, Bewegung, Dynamik, Auflösung? Wie verhalten sich Flüchtigkeit und Dauerhaftigkeit in verschiedenen medialen Formaten?
Metaphoriken und Poetiken: Von der Ökologie ausgehend bestimmen Metaphoriken des Fluiden auch immer stärker ökonomische und soziale Diskurse, sei es in Geldströmen, Datenströmen (vgl. Michael Niehaus: Durch ein Meer von Unwägbarkeiten – Metaphorik in der Wissensgesellschaft (2001)) oder abwertenden Begriffen wie »Flüchtlingswelle«. Fluidale Metaphern finden sich auch in unseren Konzeptionen von Literaturgeschichte (literarische Strömungen), Begriffen wie dem Fließtext und in der Erzähltheorie (Bewusstseinsstrom). Wie prägt das Fluide Narration und Semantik? Seit wann werden Bildfelder des Fluiden sozialökonomisch bzw. gesellschaftspolitisch relevant, denkt man beispielsweise an die ›Menschenströme‹, von denen sich die Flaneurliteratur der Moderne inspirieren und zugleich abschrecken lässt? In welchen Kontexten und zu welchen Zwecken nutzen historische, aber auch gegenwärtige literarische und mediale Formen Metaphoriken des Fluiden? Welche Autor*innen entwickeln eine Poetik des Fluiden (z.B. Esther Kinskys Poetologie des Flusses im Roman Am Fluß (2014))? Welche Schreibweisen bildet eine Poetik bzw. Poetologie des Fluiden aus?
Zeiten und Räume: Nachdem sich das Meer kulturgeschichtlich von der Frühen Neuzeit bis zur Romantik und noch in das 20. Jahrhundert hinein von einem Angst- in einen Sehnsuchtsraum verwandelt hat, scheint die Offenheit des Aquatischen eng mit Momenten des Utopischen verbunden zu sein, wie beispielsweise in Ingeborg Bachmanns Gedicht Böhmen liegt am Meer (1964) deutlich wird. Strand und Meer können auch hinsichtlich der gegenwärtig prominent diskutierten Kategorie class codiert werden, wie bereits in Eduard von Keyserlings Wellen (1911). Das Meer fungiert weiterhin als multidimensionaler Erinnerungsraum (vgl. die Ausgabe Das Meer als Raum transkultureller Erinnerungen der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (2020)). Im 21. Jahrhundert wird das Fluide zunehmend als destabilisierend, aber auch als Medium nicht zugänglicher Erinnerung reflektiert. Im anhaltenden Erdrutsch als Verschiebung von Zeit und Raum figuriert, kann es Erzählstrukturen auflösen, entgrenzen, verdrängte (kollektive) Erinnerungen entbergen, wie beispielsweise in Raphaela Edelbauers Roman Das flüssige Land (2019). Angesichts der ›Ströme‹ von Flüchtenden, die übers Meer kommen, erhält das Fluide eine politische Dimension, wie beispielsweise in Elfriede Jelineks Theatertexten Die Schutzbefohlenen (seit 2013). Welche räumlich-zeitlichen Kategorisierungen öffnet, verschließt und verschiebt das Fluide in Abhängigkeit zum jeweiligen literar-, medien- und kulturhistorischen Kontext?
Organisatorisches: Vor allem Bachelor- und Master-, aber auch Promotionsstudierende sämtlicher kulturwissenschaftlicher Disziplinen sind herzlich eingeladen, sich für einen Vortrag im Rahmen der Veranstaltung zu bewerben. Die Dauer der Einzelvorträge wird sich auf 30 Minuten belaufen, unterteilt in 20 Minuten Vortrag und eine anschließende Diskussion von circa 10 Minuten. Im Anschluss an die Tagung ist die Open-Access-Publikation der Beiträge in der Reihe der Studien der Paderborner Komparatistik geplant.
Interessent*innen werden gebeten, ein Abstract zum Vortragsthema im Umfang von 200–300 Wörtern plus Kurz-CV bis zum 10.06.2024 an Anna Maria Spener (anna.maria.spener@upb.de) zu schicken, die ebenfalls Ansprechpartnerin für weitere Fragen ist.
Organisator*innen (Teilnehmende des B.A.- und M.A.-Seminars »Praxisseminar zur Konzeption und Organisation wissenschaftlicher Tagungen« im Studienfach Komparatistik/Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Paderborn): Emily Calzado, Leonie Hesse, Sonja Hinz, Nuria Hochkirchen, Charlotte Hollenhorst, Maria Kalemi, Aladji Daniel Kossi, Nan Makarova, Katrin Nötzel, Sara Peine, Samu Richter, Vanessa Schniedermeyer.