Konferenzen, Tagungen

Geistesgegenwart und Nachdenklichkeit. Kleine Formen der Intervention, Dresden

Beginn
06.07.2023
Ende
07.07.2023

Tagung am Institut für Germanistik und Medienkulturen, Technische Universität Dresden, 06.–07. Juli 2023

Organisation/Kontakt: Dr. Bernhard Stricker (Technische Universität Dresden), bernhard.stricker@tu-dresden.de

Keynote: Prof. Paul Fleming (Cornell University)

Kleine Formen, wie sie aktuell im Zentrum mehrerer literatur-, medien- und kulturwissenschaftlicher Forschungs­diskurse stehen (siehe etwa das DFG-Graduierten­kolleg 2190 »Literatur- und Wissens­geschichte kleiner Formen«, Humboldt-Univer­sität zu Berlin), bestechen durch Kürze und Knappheit (Gamper/Mayer 2017), durch eine zeitliche und räum­liche Ökonomie, welche die Voraussetzung ihres Eindringens in größere ›Texturen‹ darstellt. Die ursprüngliche Platzierung des Feuilletons ›unterm Strich‹ (Jäger/Matala de Mazza/Vogl 2021, 4–5) bildet hierfür ein ebenso prägnantes Beispiel wie die Entstehung der Kalendergeschichte durch das Ausfüllen der freien Seitenräume im Kalendarium (Goppelsröder 2017, 79; Stricker 2021). Die kleine Form ist also geradezu per definitionem eine ›Intervention‹, ohne diesen Begriff auf politischen Aktivismus im engeren Sinne zu beschränken (zur Breite des Konzepts der ›Intervention‹ siehe das Forschungs­programm des SFB 1512 »Inter­venierende Künste« an der Freien Universität Berlin). Im Zentrum der internationalen Konferenz an der Professur für Medienwissenschaft und Neuere deutsche Literatur der Technischen Universität Dresden soll das Disruptions­potential (Koch 2021) dieses spatialen und temporalen ›Zwischenraums‹ (Althaus/Bunzel/Göttsche 2007) stehen. Denn die besondere Dynamik kleiner Formen beschränkt sich keineswegs darauf, dass sie den für die Moderne charakteristischen Imperativen der Beschleunigung, des Aktualitätsdrucks und der Gegenwärtigkeit gehorchen. Die Konferenz widmet sich vielmehr der Frage, inwiefern kleine Formen dank ihres beson­deren ›Sensoriums für Flüchtigkeit‹ (Brokoff 2020, 104) dazu tendieren, die ökono­mischen Zwänge ihrer Hervor­bringung sowie die (zeit-)räumliche Konfiguration, in die sie sich einschreiben, zu reflektieren, zu durchbrechen und zu unterlaufen. Indem sie die äußerlichen Bedin­gungen ihres Erscheinens in eine produktive Unter­brechung von Routinen trans­formieren, so die Hypothese, konstituieren kleine Text- und Bildformate ein Spielfeld, auf dem ein Umschlag von Zeitdruck in Zeitvertreib, von knappen Aufmerksamkeits­ressour­cen in unerschöpf­liche Deutungsoptionen, von Effizienz in Emer­genz statt­finden kann.

Exemplarisch für mögliche Konzeptua­lisierungen dieser Leistung kleiner Formen können Walter Benjamins Begriff der »Geistes­­gegenwart« (Benjamin 1991, I, 695, 1242, 1244) und Hans Blumenbergs Konzept der »Nach­denk­lichkeit« (Blumenberg 1980) stehen. Es handelt sich um zwei auf den ersten Blick gegen­sätzliche Ausprägungen eines Nach­denkens über das Spannungsverhältnis von Zeit und Reflexion. Benjamin versteht unter Geistes­gegenwart eine antizipatorische Aktions­form, die auf einer Aussetzung des Bewusstseins beruht, um wirksam werden zu können und die ihm als Modell für genuin revolu­tio­näres Handeln auf dem Feld der Politik dient (Weidmann 1992). Nachdenk­lich­keit gilt Blumenberg dagegen als eine durch die philosophische Konfron­tation von lebensweltlicher und szientifischer Rationalität gewon­nene Suspendierung des Reiz-und-Reaktion-Schemas, die den Kern menschlicher Kultur­leistungen darstellt (Zill 2015). Beide Begriffe markieren mit jeweils unterschiedlicher (politischer, anthropo­logischer) Akzentsetzung einen interventionistischen Zug philoso­phi­scher Theorie. Und beide Autoren greifen dafür auf das Modell literarischer Kleinformen zurück: Wo Benjamins Geistesgegenwart neben dem Surréalismus auch in seiner Lesart der Kalender­texte Hebels gründet (Benjamin 1991, II, 640; Stricker 2021), da speist sich Blumen­bergs Nachdenken nicht nur aus Anekdoten (Fleming 2012; Hawkins 2017), sondern entwickelt er sein Konzept von Nachdenk­lichkeit auch auf der Grundlage der äsopischen Fabeln (Fuchs 2022). Die Konzepte Benjamins und Blumen­bergs können also einen möglichen Ausgangspunkt markieren für die im Rahmen der Konferenz geplante Untersuchung der viel­fäl­­tigen Modi, in denen Theorie­bildung sich auf dem Umweg über kleine literarische Formen auf Gegenwart bezieht und ihren eigenen Zeitbezug reflektiert, um in Prozessen und Diskursen zu intervenieren.

Literatur:

Althaus, Thomas/Bunzel, Wolfgang/Göttsche, Dirk (2007): Ränder, Schwellen, Zwischenräume. Zum Standort kleiner Prosa im Literatursystem der Moderne. In: dies. (Hg.): Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Tübingen: Niemeyer, S. ix-xxvii.

Blumenberg, Hans (1980): Nachdenklichkeit. Dankrede zur Verleihung des Sigmund-Freud-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. URL: https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/sigmund-freud-preis/hans-blumenberg/dank... [12.01.2023].

Brokoff, Jürgen (2020): Literarische Form und Intervention. Zur Formdiskussion im Kontext der proletarisch-revolutionären Literaturtheorie um 1930. In: Formästhetiken und Formen der Literatur. Materialität – Ornament – Codierung. Hrsg. v. Torsten Hahn und Nicolas Pethes. Bielefeld: transcript, S. 101–114.

Fleming, Paul (2012): On the Edge of Non-Contingency: Anecdotes and the Life-World. In: Telos 158, S. 21–35.

Fuchs, Florian (2022): Decoding Aesop: Blumenberg’s Fabulistic Turn. In: New German Critique 145, Vol. 49, No. 1, S. 163–183.

Gamper, Michael/Mayer, Ruth (Hg.) (2017): Kurz und Knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld: transcript.

Goppelsröder, Fabian (2017): Hebels Kalenderpoetik. In: Weimarer Beiträge 63, S. 78–100.

Hawkins, Spencer (2017): Anecdote as Philosophical Intervention: Hans Blumenberg’s Figure of the Absent-Minded Phenomenologist. In: Monatshefte 109, No. 3, S. 430–452.

Holzer, Jenny (1996): Writing./Schriften. Hrsg. von Noemi Smolik. Ostfildern-Ruit: Cantz.

Jäger, Maren/Matala de Mazza, Ethel/Vogl, Joseph (2021): Einleitung. In: dies. (Hg.): Verkleinerung. Epistemologie und Literaturgeschichte kleiner Formen. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 1-12.

Koch, Lars (2021): Literaturwissenschaft als Disruptionswissenschaft. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft LXV, S. 413–428.

Stricker, Bernhard (2021): Hebels Nachleben. Die Kalendergeschichte als kleine Form. In: Archiv für Medien­geschichte – Kleine Formen. Hrsg. von Friedrich Balke, Bernhard Siegert und Joseph Vogl, S. 135–145.

Weidmann, Heiner (1992): Geistesgegenwart: Das Spiel in Walter Benjamins Passagenarbeit. In: MLN 107, No. 3, S. 521–547.

Zill, Rüdiger (2015): Nachdenklichkeit, antik – und modern. Sokrates als Urbild narrativer Philosophie. In: Prometheus gibt nicht auf. Antike Welt und modernes Leben in Hans Blumenbergs Philosophie. Hrsg. v. Melanie Möller. Paderborn: Wilhelm Fink, S. 219–238.

Programm:

Donnerstag, 06. Juli 2023

 

14:00     Begrüßung und Einführung

 

14:15     Jürgen Brokoff (Berlin) »Durchstreichen, Zurückziehen, Aussetzen. Über (geistes-)gegenwärtige Verfahren von kleinen Formen der Intervention«

 

15:00     Anja Gerigk (Dresden) »Gattungsökonomien und Schreibgestus. Scheerbarts visionäre Glasarchitektur-Prosa«

 

16:15     Fabian Goppelsröder (Braunschweig)

»Kalendergeschichte, Fait Divers, Twitter. Zur Medienpoetik kleiner Formen«

 

17:00     Florian Fuchs (Berlin)

»Operative Erzählungen. Über kleine Form und nicht-menschliche Autonomie«

 

18:15     Öffentlicher Abendvortrag von Paul Fleming (Cornell University):

»Nichtdenken, Nachdenken, Lachen: Kleine Formen in Blumenberg und Freud«

                 

Freitag, 07. Juli 2023

09:00     Eva Axer (Berlin)

»›Einfache Formen‹ der Intervention – Jolles mit Benjamin gelesen

 

09:45     Rüdiger Zill (Potsdam)

»›Denkbilder‹ oder ›Begriffe in Geschichten‹. Kleine Formen bei Walter Benjamin und Hans Blumenberg«

 

11:00     Claudia Öhlschläger (Paderborn)

»Zwischen Heroismus und kritischer Intervention: Physiognomische Miniaturen als Medien und Memorabilien kleiner literarischer Formen«<o:p></o:p>

 

11:45     Bernhard Stricker (Dresden)

»Die Erfahrung des Gemeinplatzes. Jean Paulhans ethnographische Interventionen«

 

12:30     Mittagspause

 

14:00     Julia Prager (Dresden)

»Schinkenfleckerl, Sachertorte und Grünkohl. Traditionsgerichte als kleine Formen identitäts­politischer Intervention bei Jelinek, Schleef und Regener/Haußmann«

 

14:45     Annika Hildebrandt (Bonn)

»Intervention und Aktivierung. Hanns Eislers Konzept des revolutionären Kampflieds«

 

16:00     Lars Koch (Dresden)

»Über Anwürfe. Beobachtung zu einer Praktik der Missbilligung zwischen Kritik und Invektivität«

 

16:45     Abschlussdiskussion

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literatur und Philosophie, Einfache/Kleine Formen (Anekdote, Fabel, Fragment)
Benjamin; Blumenberg

Links

Ansprechpartner

Einrichtungen

Technische Universität Dresden
Datum der Veröffentlichung: 08.05.2023
Letzte Änderung: 08.05.2023