CfP/CfA Veranstaltungen

Virtuelle Investigationen. Zur Revision des Indizienparadigmas in Recht, Literatur und den Künsten (Münster)

Beginn
04.05.2023
Ende
05.05.2023
Deadline Abstract
31.10.2022

Call for Papers

- English Version below -

Virtuelle Investigationen
Zur Revision des Indizienparadigmas in Recht, Literatur und den Künsten

 

Interdisziplinäre Tagung am SFB 1385 Recht und Literatur

Münster, 04./05. Mai 2023

Organisation: Prof. Dr. Joachim Harst (Köln), Nursan Celik (Münster)

 

Keynote: Prof. Franziska Nori (Direktorin, Frankfurter Kunstverein)

 

Als Ginzburg (1995) die These formulierte, dass die Geisteswissenschaften wie die Kriminalliteratur im sog „Indizienparadigma“ gründeten, hatte er mit Sherlock Holmes einen Detektiv vor Augen, der persönlich den Tatort besichtigte. Dort erhob er Spuren, kombinierte sie und kam in oftmals ingeniösen, aber auch höchst spekulativen Schlussfolgerungen zur Lösung seines Falls. Da Spuren aber nur im Rahmen einer Gesamterzählung („Tathergang“) als solche zu identifizieren sind, unterstrich Ginzburg den narrativen Aspekt dieses Spurenlesens und argumentierte, die Geisteswissenschaften betrieben in einem ähnlichen Sinn Spurensuche und -deutung. Ihr Wissenserwerb sei daher dem des Detektivs zu vergleichen. Darüber hinaus wurde das „Indizienparadigma“ verschiedentlich zur Analyse von literarischen und bildnerischen Kunstwerken herangezogen: So können Werke einerseits auf „Spuren“ vergangener Realität untersucht oder umgekehrt das „Indizienparadigma“ als künstlerisches device zur Realitätskonstruktion oder Rezeptionslenkung eingesetzt werden.

Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in Forschung und Fahndung muss das „Indizienparadigma“ allerdings einer Revision und Aktualisierung unterzogen werden. Denn seit der Privatdetektiv von „Kommissar Computer“ (Hartung 2010) Konkurrenz bekommen hat, haben sich die Investigationspraktiken grundlegend gewandelt: Computergestützte Fahndungs- und Aufklärungsmethoden können eine Besichtigung des Tatorts, eine Auswertung positiver Spuren ergänzen oder gar ersetzen. In der populären Darstellung moderner Investigation zeichnet sich daher eine Verschiebung ab, die den einzelnen Ermittler durch ein Team von Forensikern ersetzt, das Fälle durch digitale Datenverarbeitung löst. So kann man von einem „grundlegenden Wandel [der] Deutungs- und Interpretationsmuster der Krimiwelt“ sprechen: Während bspw. Columbos Ermittlungen meist auf sozialer und psychologischer Ebene ansetzten, interessieren Mörder und Opfer nun „nur noch als Träger von Spuren, die Evidenz erzeugen können“ (Gugerli 2007, 12). Unter dem Schlagwort „CSI-Effekt“ wird dabei unter Bezug auf die erfolgreiche Serie „CSI: Crime Scene Investigation“ (USA 2000-2015) die Frage diskutiert, welche Rückwirkungen dies auf die kriminalistische und juristische Praxis zeitigt (ebd.). Ein konkretes Problem wäre bspw. die Frage, inwiefern ein Richter die Funktionsweise algorithmischer Spurenauswertung überhaupt noch nachvollziehen kann, so dass seine Beweiswürdigung statt dessen auf den Glauben an das ordnungsgemäße Funktionieren der Algorithmen gründet.

Während solche Investigationspraktiken in der populären Darstellung mit positivistischen Erkenntnisansprüchen verbunden werden, heißt es aus wissenschaftlicher Perspektive daher auch ihre konstruktivistische Dimension zu untersuchen: Rekonstruktionen, Visualisierungen und Simulationen produzieren Beweismittel und können im Extremfall die Spuren überhaupt erst hervorbringen, die es auszuwerten gilt (wie es Rheinberger 2007 für das Experimentalsystem nachgewiesen hat); Visualisierungen erreichen oftmals eine sinnfällige Evidenz, die über ihre Datengrundlage hinausgeht. So bezeugen und betreiben heutige Investigationspraktiken eine fortschreitende Virtualisierung investigativen Wissens, die auf das „Indizienparadigma“ und seine Grundbegriffe (Indiz, Spur, Beweis, Referenz, Erkenntnis) zurückwirkt – und damit auch auf Kunstwerke, die mit dem „Indizienparadigma“ in Kontakt stehen.

Die projektierte Tagung will die kultur-, kunst- und literaturgeschichtlichen Zusammenhänge dieser Virtualisierung im späten 20. Jahrhundert aufarbeiten. Sie lädt ein zu Beiträgen, die den folgenden drei Frageschwerpunkten nachspüren:

  1. Beiträge zur Geschichte der Virtualisierung von Erkennungs- und Erkenntnispraktiken und deren Reflexion in literarischen, filmischen sowie anderweitig künstlerischen Werken.
  2. Reflexionen und Fallbeispiele zum Verhältnis von Zeigen und Beweisen (Ginzburg), d.h. zur Evidenzerzeugung durch Visualisierung (Karten, Diagramme, Simulationen).
  3. Beiträge zum Verhältnis zwischen Investigation und Ästhetik, Design und Kritik, Gestalten und Erkennen.

Weitere und ausführlichere Vorschläge zu möglichen Themenbereichen gibt es hier: 

https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/SFB1385/20220905_virtuelle_investigationen_...

 

Beitragsvorschläge von der Länge von ca. einer Seite werden bis zum 31.10.2022 per Email an die Adressen jharst@uni-koeln.de sowie ncelik@uni-muenster.de erbeten. Teilnehmer*innen der Tagung erhalten die Reisekosten erstattet.


Bibliografie

Ginzburg, Carlo. 1995. Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. Berlin: Wagenbach.
Gugerli, David. 2007. Die Welt als Datenbank. Zur Relation von Softwareentwicklung, Abfragetechnik und Deutungsautonomie. Nach Feierabend 5, Nr. 3: 11–36.
Hartung, Lea. 2010. Kommissar Computer: Horst Herold und die Virtualisierung des polizeilichen Wissens. Phdthesis, FU Berlin. https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/18667/StaR-P_w_7_Herold.pdf?sequence=1.
Rheinberger, Hans-Jörg. 2007. Spurenlesen im Experimentalsystem. In: Spur: Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, hg. von Sybille Krämer und Werner Kogge, 293–308. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Call for Papers

 

Virtual Investigations

New Perspectives on the Evidential Paradigm in Law, Literature, and the Arts

 

Interdisciplinary Conference at the CRC 1385 Law and Literature

University of Muenster, Germany, May 4th/5th 2023

Organisers: Prof. Joachim Harst (University of Cologne), Nursan Celik (University of Muenster)

 

Keynote: Prof. Franziska Nori (director, Frankfurter Kunstverein)

 

When Ginzburg (1995) advances the thesis that the humanities, just like crime literature, were founded in the so-called "evidential paradigm," he is primarily thinking of Sherlock Holmes, a detective who would visit crime scenes himself. There he would then collect traces, combine them and solve his case by drawing often ingenious, but also highly speculative conclusions. But since traces can only be identified as such within the framework of an overall narrative, Ginzburg emphasises the narrative value of the interpretation of traces. He argues that the humanities engage in the search for and interpretation of traces in a similar manner. Their acquisition of knowledge, he proposes, can therefore be compared to that of the detective. In addition, the evidential paradigm has been used on various occasions to analyse literary and visual works of art: Works can be examined for "traces" of the past, or conversely, the evidential paradigm can be used as an artistic device for constructing reality or guiding reception.

However, taking into account current developments in research and investigation, the evidential paradigm calls for a revision. For ever since the private detective has been facing competition by "Kommissar Computer" (Hartung 2010), investigative practices have changed fundamentally: Investigative computer-aided search methods can now supplement or even make redundant a visit to the crime scene. Hence, popular portrayals of modern investigation mark a shift that replaces the individual investigator with a team of forensic scientists solving cases by using digital data processing. What follows is a fundamental change in terms of processes of interpretation, particularly those concerning the crime world. While Columbo's investigations, for instance, were mostly based on a social and psychological level, murderers and victims are now only of importance insofar as they are bearers of traces that can help find evidence (cf. Gugerli 2007, 12). Following the catchphrase "CSI effect," which refers to the successful series "CSI: Crime Scene Investigation" (USA 2000-2015), the question arises what repercussions this has on criminal and legal practice (ibid.). One potential problem that might follow from this is the question if a judge can still comprehend the functioning of algorithmic trace analysis, so that his evaluation of evidence may be based on his belief in the proper functioning of the algorithms instead.

While such investigative practices are often associated with positivist claims to knowledge in popular accounts, it is also necessary to underline their constructivist dimension from a scientific point of view: Reconstructions, visualisations, and simulations produce evidence and, in some cases, produce the traces to be evaluated in the first place (as Rheinberger demonstrated for the experimental system in 2007). Visualisations often enough lead to meaningful evidence that goes beyond their data basis. Thus, today’s investigative practices both bear witness to and engage in a progressive virtualisation of investigative knowledge, which has effects on the evidential paradigm and its basic concepts (evidence, trace, reference, cognition) – and thus also on works of art that are connected to it.

The conference aims to discuss the aforementioned virtualisation in the late 20th century with regard to aspects in culture, art, literature, and history. Possible topics might include but are not limited to:

  1. Contributions regarding the history of the virtualisation of cognition and knowledge practices and their reflection in literature, cinema, or any other works of art.
  2. Reflections and case studies on the relationship between showing and proving (Ginzburg), i.e. on the generation of evidence through visualisation (maps, diagrams, simulations).
  3. Contributions regarding the relationship between investigation and aesthetics, design and criticism as well as design and recognition.

Proposals for papers of approx. one page are requested by October 31th 2022. Submissions and general inquiries should be sent to jharst@uni-koeln.de and ncelik@uni-muenster.de. Travel expenses will be covered.

 

Works Cited

Ginzburg, Carlo. 1995. Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. Berlin: Wagenbach.

Gugerli, David. 2007. Die Welt als Datenbank. Zur Relation von Softwareentwicklung, Abfragetechnik und Deutungsautonomie. Nach Feierabend 5, no. 3: 11–36.

Hartung, Lea. 2010. Kommissar Computer: Horst Herold und die Virtualisierung des polizeilichen Wissens. Phd dissertation, FU Berlin. https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/18667/StaR-P_w_7_Herold.pdf?sequence=1.

Rheinberger, Hans-Jörg. 2007. Spurenlesen im Experimentalsystem. In Spur: Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, ed. by Sybille Krämer and Werner Kogge, 293–308. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literatur und andere Künste, Literatur und Recht

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SFB Recht und Literatur, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

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SFB 1385 Recht und Literatur
Datum der Veröffentlichung: 09.09.2022
Letzte Änderung: 09.09.2022