CfP/CfA Veranstaltungen

Narrative Ökonomien (1850 bis 2022)

Beginn
03.05.2023
Ende
05.05.2023
Deadline Abstract
15.10.2022

CfP: Narrative Ökonomien (1850 bis 2022)

Tagung, 3.5.–5.5.2023, Universität Zürich

Organisation: Céline Martins-Thomas, M.A. und Dr. Sebastian Meixner

 

Wirtschaft hängt von Erzählungen ab. Denn Erzählungen machen abstrakte ökonomische Grössen und Prozesse anschaulich, sie ordnen Entitäten, reduzieren Komplexität und stellen Handlungsfähigkeit her. Grosse Erzählungen von Fortschritt und Wachstum lassen sich wiederum aufspalten in kleinere Einheiten einander ablösender Technologien, Tendenzen und Konjunkturen. Dabei bündeln insbesondere extreme Phasen – Boom und Depression – die narrativen Energien des Diskurses, wenn etwa der aus dem kritischen Rationalismus stammende ‚schwarze Schwan‘ zum nicht-linearen Modell der Ökonomie erhoben wird und zur Chiffre einer Zeit avanciert, die traditionelle lineare Erzählungen von Wachstum und Prosperität herausfordert (vgl. Seelbach 2017). Grosse Erzählungen – darauf hat neben anderen jüngst Robert J. Shiller hingewiesen (vgl. Shiller 2019) – formen die Ökonomie. Damit ist gemeint, dass narrative Verfahren ökonomische Grössen und Prozesse mitkonstituieren, weil sie die Zusammenhänge stiften, die den grossen Erzählungen in der Folge zugrunde liegen. Das aber bedeutet, dass die Wirtschaft nicht nur von Erzählungen, sondern vom Erzählen abhängt. So weist Shiller prominent auf die ökonomisch unspezifische Metaphorik der Ansteckung hin, die beschreibt, wie sich bestimmte Narrative ‚viral‘ verbreiten und erst so ökonomische Effekte zeitigen. Was diese Metaphorik so anschaulich beschreibt, ist gleichwohl die black box der narrativen Ökonomie nach Shiller, denn die Frage danach, welche narrative Verfahren sich an diese Metaphorik der Ansteckung anlagern, bleibt unbeantwortet (vgl. auch Boltanski/Esquerre 2018).

Für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit narrativen Ökonomien ist abseits einer persistenten Metaphorik des Wirtschaftens der New Economic Criticism massgeblich. Er geht von einer Kluft bzw. einer Scheidung des Ökonomischen vom Literarischen aus und strebt es an, diese mithilfe von verschütteten oder verdrängten Gemeinsamkeiten zu überbrücken (vgl. Cuonz 2019). Eine grundlegende und in diesem Sinne intensiv erforschte Gemeinsamkeit besteht in einer Analogie von Geld und Sprache (u.a. Binswanger 1985). Daran anknüpfend wurden in zahlreichen Einzelstudien ökonomische Akteure (Banker, Kaufmann, Spekulant, Manager), ökonomische Institutionen (Markt, Bank, Haus) sowie ökonomische Aktivitäten (produzieren, tauschen, handeln, spekulieren, konsumieren) in den Blick genommen und in Relation zu ethischen Fragen (Risiko, Schulden) gesetzt. Insbesondere seit der Banken- und Finanzkrise ab 2008 widmen sich verschiedene Arbeiten der literarischen Ökonomik (vgl. v.a. Balint/Zilles 2014). Vereinzelt werden narrative Formen und sozioökonomische Diskurse aufeinander bezogen (vgl. Gallagher 1985; Deupmann 2008; Preisinger 2015), wobei vor allem Aspekte der histoire im Vordergrund stehen, wenn die Räume, Figuren und Handlungsmuster untersucht werden. Trotz einiger literaturwissenschaftlicher und vor allem wissenspoetologischer Ansätze, die die Entstehung des Romans in der Perspektive einer spezifischeren narrativen Ökonomie nachvollziehen (vgl. v.a. Vogl 2011), ist eine Narratologie der Ökonomie bezogen auf Texte seit 1850 ein Desiderat. Dabei setzt spätestens in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Phase exponentiellen wirtschaftlichen Wachstums ein, die theoriegeschichtlich von einem Paradigmenwechsel flankiert wird, für den etwa die mathematisch verfahrende Grenznutzentheorie nach Hermann Heinrich Gossen (1854) Signalwirkung hat. Literaturgeschichtlich tritt mit dem Poetischen Realismus derweil eine neue Form des narrativen Weltbildens auf den Plan (vgl. Pierstorff 2022), die einen motivischen Fokus auf Wirtschaft in narrative Verfahren übersetzt.

Diese narrativen Verfahren sollen im Zentrum der Tagung stehen. Denn literarische Texte machen narrative Ökonomien in ihren eigenen Welten greifbar und die Formprinzipien des Erzählens beobachtbar, was sich wiederum in eigenen Genres (Kaufmannsroman, Hausroman, etc.) niederschlägt. Zugleich werden neue Erzählverfahren erprobt, die nicht nur von der Wirtschaft erzählen, sondern die Wirtschaft etwa in Form ihrer ökonomischen Prinzipien narrativ hinterfragen: Positiv bewertetes Wachstum kippt in stetiger Anhäufung und Überbietung schnell ins Destruktive, wenn das Überangebot nicht länger (gewinnbringend) integriert werden kann und daher verstellend oder gar zersetzend wirkt. Die versteckten Voraussetzungen und ‚Kosten‘ von zunehmend abstrakten ökonomischen Modellen erfahren in der Literatur in diesem Sinne besondere Aufmerksamkeit.

Vor diesem Hintergrund stellen sich unter anderem folgende Fragen: An welchen Systemstellen der Narratologie kann Ökonomie verortet werden (Zeit, Modus, Stimme, aber auch Handlung, Figur und Raum)? Welche dieser Systemstellen der Narratologie aktivieren Analysen ökonomischen Erzählens und erzählter Ökonomie? Inwiefern profitiert eine Narratologie der Ökonomie von anderen – insbesondere rhetorischen – Verfahren? Welche gattungsspezifischen Dispositionen für das Verhältnis von Erzählen und Ökonomie sind denkbar? Macht eine Narratologie darüber hinaus transgenerische Darstellungsverfahren analysierbar, sodass ihr Potenzial nicht auf narrative Texte im engeren Sinn beschränkt bleibt, sondern lyrische und dramatische Texte ebenfalls umfasst?

Willkommen sind einerseits Beiträge, die sich einer narrativen Ökonomie aus literatur- und kulturtheoretischer Perspektive sowie dezidiert mit narratologischem Fokus nähern, um den Zusammenhang von ökonomischen und narrativen Aspekten systematisch zu erkunden. Andererseits sind insbesondere Einzelstudien erwünscht, die Konfigurationen der Ökonomie in literarischen Texten analysieren. Darüber hinaus sind auch wissensgeschichtliche Beiträge zu narrativen Verfahren in ökonomischen Theorien denkbar. Vorträge können auf Deutsch oder Englisch gehalten werden. Vorschläge für 30-minütige Vorträge (max. 250 Wörter) und ein kurzer wissenschaftlicher CV sind bis zum 15.10.2022 an celine.martins@ds.uzh.ch und sebastian.meixner@ds.uzh.ch erbeten.

 

Literatur

Balint, Iuditha und Sebastian Zilles (Hg.): Literarische Ökonomik. Paderborn 2014.

Binswanger, Hans Christoph: Geld und Magie. Deutung und Kritik der modernen Wirtschaft anhand von Goethes Faust. Stuttgart u.a. 1985.

Boltanski, Luc und Arnaud Esquerre: Bereicherung. Eine Kritik der Ware. Aus dem Französischen von Christine Pries. Berlin 2018.

Cuonz, Daniel: New Economic Criticism. In: Joseph Vogl und Burkhardt Wolf (Hg.): Handbuch Literatur & Ökonomie. Berlin/Boston 2019, S. 33–47.

Deupmann, Christoph: Narrating (New) Economy. Literatur und Wirtschaft um 2000. In: Evi Zemanek und Susanne Krones (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld 2008, S. 151–161.

Gallagher, Catherine: The Industrial Reformation of English Fiction. Social Discourse and Narrative Form, 1832–1867. Chicago 1985.

Gossen, Hermann Heinrich: Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln. Braunschweig 1854.

Pierstorff, Cornelia: Ontologische Narratologie. Welt erzählen bei Wilhelm Raabe. Berlin 2022.

Preisinger, Alexander: Neoliberale Ökonomie erzählen. Eine narratologisch-diskursanalytische Untersuchung der Kapitalismuskritik in der deutschsprachigen Literatur der 2000er Jahre. Heidelberg 2015.

Seelbach, Sabine: Herr und Hund. Narrationen des Linearen und des Nichtlinearen in der Wirtschaftsessayistik. In: Irmtraud Behr et al. (Hg.): Wirtschaft erzählen. Narrative Formatierungen von Ökonomie. Tübingen 2017, S. 15–25.

Shiller, Robert J.: Narrative Economics. How Stories Go Viral & Drive Major Economic Events. Princeton 2019.

Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. 4. Aufl. Zürich 2011.

 

Projektwebsite „Poetik des Überflusses: Ästhetik – Ökonomie – Literatur“

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Erzähltheorie, Literatur und Soziologie, Gattungspoetik, Lyrik allgemein, Prosa allgemein, Drama allgemein
Ökonomie

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Datum der Veröffentlichung: 26.09.2022
Letzte Änderung: 26.09.2022