CfP/CfA Veranstaltungen

Kanonisierungspraktiken im Literaturstudium, Göttingen

Beginn
22.02.2024
Ende
23.02.2024
Deadline Abstract
05.07.2023

Kanonisierungspraktiken im Literaturstudium  
Literaturwissenschaftliche Tagung in Göttingen, 22.-23.02.2024

Organisation (alle Göttingen): Jana Eckardt, Frederik Eicks, Sören Kleist, Julia Wagner, Prof. Dr. Simone Winko 

 

›Der‹ Kanon scheint sich derzeit in einem delikaten Schwebezustand zu befinden: Nach einer Phase scharfer Kritik in den 70er- und 80er-Jahren, in deren Folge er wenigstens im akademischen Feld fast völlig verschwand, befindet er sich seit rund drei Jahrzehnten in einem Aufwind, der ihn nicht nur ins Feuilleton, sondern auch zurück an die Universitäten getragen hat. Das aber wohlgemerkt in veränderter Gestalt, die immer deutlicher zu vernehmenden Forderungen und Wünschen nach einer Diversifizierung ›des‹ Kanons beziehungsweise nach der Bildung gruppenspezifischer Kanones entspringt – Kanon ja, aber Kanon nein. Auf welche Weise die kanonisierungsrelevanten philologischen und literaturwissenschaftlichen Institutionen des Literaturstudiums auf diesen nicht im strengen Sinne widersprüchlichen, mindestens aber im Umgang einiges Fingerspitzengefühl verlangenden Schwebezustand reagieren, lautet die Frage, die im Zentrum der Tagung steht.

Die Betonung der Praktiken der Kanonisierung kommt nicht von ungefähr, ist doch mit Blick auf einen der wenigen kanonwissenschaftlichen Konsense davon auszugehen, dass Kanones nicht das Resultat bewusster, prinzipiengeleiteter Entscheidungen für oder gegen einen bestimmten Kanon sind. Stattdessen ergeben sie sich aus einem komplexen Gefüge von Handlungen, die verschiedenste Ziele und Zwecke – in den allerseltensten Fällen die Einsetzung oder Aufrechterhaltung eines Kanons – verfolgen können. Vor diesem Hintergrund können praxeologische Perspektiven auf die unzähligen verschiedenen Praktiken, die von Lehrenden wie Studierenden an den Seminaren vollzogen werden und auf leisen Sohlen zu einer Kanonisierung bestimmter Werke beitragen, in besonderem Maße erhellend sein, um sich der Frage nach Kanonisierungsprozessen an Universitäten zu nähern. Denn aus diesem Blickwinkel heraus wird literaturwissenschaftliches Arbeiten nicht bloß als Anwendung expliziten Regel- und Methodenwissens begriffen, sondern nimmt beispielsweise habituelle und demgemäß implizite Formen an, die in der Regel nicht reflektiert werden.

Die Idee zur Tagung entstand im Zuge der selbstorganisierten Weiterarbeit zu den Inhalten der Veranstaltung ›Praxeologie der Literaturwissenschaft‹. Aus der Kritik an der NdL-Leseliste des Seminars für Deutsche Philologie der Universität Göttingen resultierte der Wunsch nach einer neuen Liste. Im Austausch darüber, wie so eine neue Liste aussehen könnte, kristallisierten sich schnell einige Schwierigkeiten heraus: Was sollten Absolvent:innen des Studiums der Germanistik gelesen haben? Wie kann eine Leseliste zum Lesen motivieren? Ist eine einfache Auflistung von Titeln noch zeitgemäß? Diese Fragen hatten eine Untersuchung von letztlich über 40 verschiedenen Leselisten – nur einer unter vielen Kanonisierungspraktiken im Literaturstudium – zur Folge, deren Ergebnisse wichtige Einblicke in den Kanon unseres Faches ermöglichen. 

 

Andere Fragen, die durch diese Betrachtungsweise in den Fokus rücken, lauten:

  • Welche Werke und Autor:innen werden in den Semesterprogrammen gelehrt? Geben hierbei Forschungsinteressen der Lehrenden den Ausschlag oder werden Seminare aus der Haltung heraus angeboten, Studierende sollten zu diesem bestimmten Thema gearbeitet haben?
  • Wie sind die Semesterpläne einzelner Seminare gestaltet? Ein Semester Frühromantik hier ist nicht dasselbe wie ein Semester Frühromantik dort: Welche Texte werden für einzelne Sitzungen herangezogen?
  • Welche Forschungstexte gelten als mustergültige Interpretationen und welche Werke interpretieren diese Texte?
  • Werden beim typischen Zitierverhalten alle Verweise auf Primär- oder Quellentexte belegt? Welche Zitate werden tatsächlich als Zitat markiert, welche nicht? 
  • Was lesen Studierende? Welche Gründe spielen bei der Auswahl eine Rolle: Prüfungsaufgabe, Pflichtgefühl, Interesse etc.?
  • Wie lesen Studierende? Allein oder in Gruppen? In welchen Räumen (am Schreibtisch, in der Bibliothek, im Café, …)? Mit welchen Werkzeugen (Bleistift, Textmarker, …)? In analoger oder digitaler Form?
  •  Worüber schreiben Studierende ihre Haus- und Abschlussarbeiten und welche Autor:innen zitieren sie dabei?
  • Offenbaren sich Differenzen zwischen feststellbaren Praktiken und explizitem Regelwissen?
  • Wie werden solche per definitionem schwer fassbaren Kanonisierungspraktiken im Literaturstudium sichtbar? Welche Ressourcen hat die Literaturwissenschaft für diese metawissenschaftliche Forschung? Welche Forschungsdesiderate treten zutage?
  • Ergeben sich aus dieser deskriptiven Forschung normative Konsequenzen für die literaturwissenschaftliche Praxis? Die Möglichkeiten der praktischen Umsetzung, die ebenfalls auf der Tagung diskutiert werden könnten, reichen von radikal-programmatischer Neuorientierung bis zum unbeirrten Weiter-So.

 

Im Sinne einer möglichst offenen, thematisch vielfältigen Gestaltung wird die Tagung in Form von Workshops stattfinden, die jeweils einen 20-minütigen Impulsvortrag mit anschließender 30-minütiger Diskussion vorsehen. Ihre Vorschläge (max. 300 Wörter) und Ihre Kurzbiografie senden Sie bitte bis zum 05.07.2023 an juliaalina.wagner@stud.uni-goettingen.de.

Beiträge von Studierenden, Nachwuchswissenschaftler:innen und allen, die tendenziell noch nach Antworten suchen, statt sie schon gefunden zu haben, sind besonders erwünscht.

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literaturdidaktik, Literaturgeschichtsschreibung (Geschichte; Theorie)

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Datum der Veröffentlichung: 26.05.2023
Letzte Änderung: 26.05.2023