Reinheit und die Ordnung des Politischen (1900–2000), Koblenz
Mit dem Rekurs auf Reinheit werden sowohl ästhetische als auch ethisch-moralische Ordnungen formuliert, evaluiert und vollzogen. Der Diskurs der Reinheit ermöglicht und legitimiert damit grundsätzlich eine Differenzierung von dichotomen Zuständen (rein/unrein, befleckt/unbefleckt, das Eigene/das Fremde etc.), die oftmals in der politischen und/oder religiösen Rhetorik maximal aufgeladen werden. Die typische Struktur der Erzählung der ‚verlorenen Reinheit‘ ergibt sich aus diesen Differenzierungen: Der ‚reine‘ Ursprung, der im Regelfall eine Fiktion, ein Ursprungsmythos ist, wird als verloren diagnostiziert und betrauert. Die Diagnose der Differenz zu dem vormaligen Idealzustand erfordert dann die Operation der Reinigungspraktiken, die das ‚Unreine‘ eliminieren oder transformieren, um so die Reinheit des Ausgangszustands wiederherzustellen.
Reinheit und Unreinheit werden einerseits als wechselseitige Negation gesetzt, sind andererseits aber zugleich aufeinander bezogen. Reinheit bedeutet die Abwesenheit eines störenden Elements – nämlich des verunreinigenden Schmutzes. Hieraus ergibt sich, dass Reinheit/Unreinheit wie Schmutz mit Ordnung/Unordnung korreliert; „Schmutz [ist] wesentlich Unordnung“ (Mary Douglas, 1985). Reinigungen oder (Wieder-)Herstellungen von Reinheit sind folglich als (Wieder-)Herstellungen von Ordnung zu verstehen. Somit sind Schmutz oder Unreinheit nicht auf ihren ontologischen oder essentialistischen Gehalt, sondern auf ihre Position zu untersuchen. Das relationale und arbiträre Konzept definiert Reinheit als Ordnung und als Nicht-Verstoß gegen die Regeln der räumlichen Zuordnung, woraus sich im Umkehrschluss ergibt, dass Schmutz bzw. Unreinheit mit Unordnung und unzulässigen Vermischungen in Verbindung stehen.
Die Negativwertung der Vermischung, die mit der Absolutsetzung eines starren Ordnungssystems einhergeht, ist nicht nur aus einer ästhetischen, sondern vor allem aus einer politischen Perspektive als problematisch einzustufen. Jean-Luc Nancy hält hierzu pointiert fest: „Zunächst, um das klarzustellen: das simple Lob der Mischung hat vielleicht Irrtümer hervorgebracht, aber das simple Lob der Reinheit war und ist für Verbrechen verantwortlich“ (Jean-Luc Nancy, 1993).
Ausgehend von diesen Überlegungen will die Tagung die Erzählungen der Reinheit (oder der Unreinheit) und ihre politischen Implikationen wie Logiken in den Blick nehmen. Zeitlich setzt die Veranstaltung um 1900 ein und nimmt die Zeit bis in die Gegenwart in den Blick.
Programm:
11.05.2023: D 239
14.00 Uhr Come together
14.10 Uhr PD Dr. Immanuel Nover (Koblenz): Begrüßung und Einführung
14.30 Uhr Prof. Dr. Carsten Rohde (Sun Yat-sen University Guangzhou, China): „The phantasy of purity is appalling“. Reinheit als Denkfigur der Moderne und im Werk von Philip Roth [Vortrag via Zoom]
15.15 Uhr Rabea Conrad (LMU München): Reinheit durch Korrektur. Thomas Bernhards Vernichtungspoetik und das Ideal der Schwester
16.00 Uhr PAUSE
16.30 Uhr Dr. Tanja Angela Kunz (Bielefeld): Literarische Produktivität
nationalpolitischer Reinheitsmythen: Die Schweiz im Spiegel der Dichterkritik
17.15 Uhr Prof. Dr. Stefan Neuhaus (Koblenz): Scherz, Satire, Reinheit und tiefere Bedeutung
im Anschluss GEMEINSAMES ABENDESSEN
12.05.202: D 239
10.00 Uhr Prof. Dr. Christian Geulen (Koblenz): „Die reine Lehre“: Theoretisches Wissen und seine Gefährdung
10.45 Uhr: Dr. Eva Stubenrauch (HU Berlin): In Zukunft als (R)Einheit. Zum Double Bind verzeitlichter Genealogie
11.30 Uhr PAUSE
12.00 Uhr Dr. Sven Neufert (Bonn): Reinheit und die völkische Bewegung
12.45 Uhr Prof. Dr. Marcel Schmid (Virginia, USA): Lebensreform um 1900 [Vortrag via Zoom]
13.30 Uhr Abschlussdiskussion
Kontakt: PD Dr. Immanuel Nover – nover@uni-koblenz.de