Ereignis und Fatum. Zur Zeitlichkeit der Katastrophe in Mittelalter und früher Neuzeit, Hengstberger Symposium im IWH Heidelberg
Betrachten wir den Diskurs, der sich gegenwärtig an Naturkatastrophen anknüpft, fällt auf, dass diese nicht etwa als unikales Einzelereignis wahrgenommen werden, sondern vielmehr als Teil von Ereignisketten und als Zeichen eines fortschreitenden Verfalls, der kausal und letztlich schuldhaft an menschliches Handeln rückgebunden wird. Das Sprechen über die Katastrophe bricht hierdurch mit seit dem 18. Jahrhundert etablierten Vorstellungen: Während bis in die Aufklärung eine Vorstellung von Katastrophe als Fatum und als göttliche Strafe dominierte, wird die Katastrophe ab dem 18. Jahrhundert zum Inbegriff der Kontingenzerfahrung. Als Marker für den Bruch mit etablierten Kausalitätsstrukturen gilt das Lissabonner Erdbeben von 1755: Es resultiert weniger in einer Mahnung zur moralischen Besserung, sondern führt etwa zur Aufforderung, beim Wiederaufbau auf widerstandsfähigere Materialien zurückzugreifen und hierdurch ein ähnliches Schicksal künftig zu verhindern (vgl. Blank 2021; Lauer, Unger 2008). Formen der Vorsorge manifestieren sich auch im zeitgleich entstehenden modernen Versicherungswesen (Zwierlein 2011).
Die Katastrophe ist einerseits ein distinktes Einzelereignis, wird jedoch in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kulturen als Zeichen für anderes – etwa das Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung – gelesen. Aus dieser Zeichenhaftigkeit erwächst der Katastrophe eine doppelte zeitliche Dimension: Sie ist Endpunkt und Resultat einer Verkettung von Umständen, auf die immer wieder durch warnende Vorzeichen hingedeutet wurde. Sie weist jedoch zugleich in eine unsichere Zukunft, in der es einerseits gilt, aus dem Gleichgewicht gefallene Ordnung wieder herzustellen, andererseits jedoch das Verhalten, das die Katastrophe provoziert hat, zu unterbinden, um eine etwaige Heilsgefährdung auszuschließen. Die einzelne Katastrophe wird darüber hinaus immer wieder mittels chronikaler Überlieferung in eine lange Abfolge von ähnlichen Ereignissen gestellt, wodurch das Exzeptionelle dem Regelhaften weicht.
Ziel der Tagung ist es, die Zeit vor der Beschreibung der Katastrophe als ein dem Zufall unterliegendes Ereignis in den Blick zu nehmen. Der Untersuchungsrahmen erstreckt sich vom Mittelalter bis in die Aufklärung um 1750. In diesem Zeitraum erscheint die Dominanz religiöser Erklärungsmuster von verheerenden Naturereignissen auf den ersten Blick überraschend konstant (Weber 2015). Auch scheint dieses Muster ein bislang unterschätztes Potential zu bieten, kollektive Krisensituationen zu überwinden. Welche Anpassungen das Narrativ von Katastrophe als Strafe in den jeweiligen Epochen durchläuft, welche literarischen Darstellungsformen gewählt werden und welches resilienzbildende Potential ihnen innewohnt, soll im Rahmen der Tagung eruiert werden. Die Tagung wird ermöglicht durch den Klaus-Georg und Sigrid Hengstberger-Preis der Universität Heidelberg.
Programm
1. Juni 2023
9.15–9.45 Uhr Begrüßung und Einleitung
Moderation: Tobias Bulang
9.45–10.30 Uhr Silvia Reuvekamp: Zwischen Gottesgericht und Schadenszauber – Probleme der Zurechenbarkeit von Unwettern in Recht und Literatur des Mittelalters
10.30–11.00 Uhr Kaffeepause
11.00–11.45 Uhr Isabella Managò: Katastrophenerfahrungen. Zur Wahrnehmung und Beurteilung von Unglück im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg
11.45–12.30 Uhr Özlem Langer: Wann jr nit haltten myn gebott / Will ich uch geben plag vnd dot. Plagen als Strafe Gottes? Überlegungen zu Fatum und Kontingenz in ausgewählten Texten des Mittelalters
12.30 Uhr–14.00 Uhr Mittagspause
Moderation: Fiona Walter
14.00–14.45 Uhr Christian Buhr: Drachen unter der Stadt – Roms monströse Katastrophe als Schicksal und Herausforderung
14.45–15.30 Uhr Niels Penke: Rammelsberg 1376 und andere. Zur narrativen Reflexion von Grubenunglücken
15.30–16.00 Uhr Kaffeepause
Moderation: Dirk Werle
16.00–16.45 Uhr Joana van de Löcht: Zeichen und Zeitung. Die Sammlung von Katastrophennachrichten im Thesaurus Picturarum und der Wickiana
16.45–17.30 Uhr Eric Achermann: Zeiterfahrung und Bedrohung in der Frühen Neuzeit
ab 19 Uhr gemeinsames Abendessen im IWH
2. Juni 2023
Moderation: Sylvia Brockstieger
9.00–9.45 Uhr Benedikt Brunner: Gericht als Chance. Protestantische Normvermittlung und Resilienzreservoire im Kontext alltäglicher und außeralltäglicher Katastrophen (1600–1750)
9.45–10.30 Uhr Paul Strohmaier: Ordnungsverlust und epische Form. Zur Resilienz des Epos in der französischen Literatur der Religionskriege
10.30–11.00 Uhr Kaffeepause
Moderation: Björn Spiekermann
11.00–11.45 Uhr Gudrun Bamberger: Eruptive Zeitkritik – der furcht- und fruchtbare Vulkan in Martin Opitz’ Vesuvius
11.45–12.30 Uhr Thomas Wozniak: Zur Instrumentalisierung frühmittelalterlicher Naturereignisse
12.30–13.00 Uhr Abschlussdiskussion
Die Tagung wird ausschlielich in Präsenz stattfinden, doch sind Gäste herzlich willkommen. Bitte melden Sie sich hierfür bis zum 30. Mai 2023 unter joana.van.de.loecht@germanistik.uni-freiburg.de.