CfP/CfA events

Das Rätsel in der Moderne (Berlin)

Beginning
11.11.2022
End
11.11.2022
Abstract submission deadline
15.08.2022

Workshop, 11.11.2022, Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL)

Organisation: Dana Steglich (Johannes Gutenberg-Universität Mainz), Eva Stubenrauch (ZfL)

Die Hochzeit des Rätsels wird für gewöhnlich im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit festgesetzt (vgl. Fasbender 2007, 627f.). Hier florierte die literarische Kurzform, die kaum je ohne ihren sozialen Kontext beschrieben wird. Das Rätsel lebt dort, wo es gebraucht wird: als Wettstreit am Hofe, im Kinderspiel oder in der geselligen Salonsituation. Nicht zufällig klassifiziert André Jolles die »Einfache Form« des Rätsels primär mit sozialen Kategorien, indem er das Rätselstellen mit der Examenssituation oder der Gerichtsverhandlung und das Rätsellösen mit der Aufnahme in Geheimbünde vergleicht (Jolles 1930). Die Form des Rätsels ist sein »Kommunikationszusammenhang« (Schönfeldt 1978, 61). Aus dieser Beschreibungsgewohnheit mag sich die in der Rätselforschung dominante These speisen, die besagt, dass das Rätsel parallel zum Anbruch der Moderne verschwindet. Mit Ausnahme eines auf Schillers Turandot zurückgeführten erneuten Aufschwungs im 19. Jahrhundert verliere das Rätsel ab 1800 und dann vollends ab 1900 seine gesellschaftliche und literarische Bedeutung: »Spätestens nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der vielen tiefen, damit verbundenen Veränderungen in Europa ist es mit den Rätseln wohl im Grunde vorbei«, schreibt Claudia Schittek (1991, 22). »Nach dem Abzug der Poesie blieb das Rätsel, abgesehen von gelegentlichen Relikten in Rätselecken von Tageszeitungen, als nackte Struktur zurück, als Wissens-Frage (Quiz) oder Kreuzworträtsel«, konstatiert Volker Schupp (2002, 207f.). Das elegische Narrativ vom Ende des Rätsels deckt sich mit vielen modernetheoretischen Postulaten: Mit der modernen Isolation und Vereinzelung friste das Rätsel sein Dasein scheinbar nurmehr als »nackte Struktur«, als Schwundstufe einer um 1900 generell zunehmenden Rationalisierung (vgl. Fix 2000).

Diese Forschungsmeinung irritiert und ist aus mehreren Gründen revisionsbedürftig. Der erste Grund ist ein intuitiver, wimmelt es doch in unserem Alltag und unserer Freizeitkultur geradezu von Rätseln: Jenseits der für den Untergang der (Sozial-)Form angeführten Kreuzworträtsel und Quizfragen gibt es heute ein breites Angebot an mehr oder weniger neuen Rätseltypen, angefan-gen bei den Lateralen wie Black Stories, die besonders auf Jugendfreizeiten und Spieleabenden beliebt sind, über Pen&Paper und Adventure Games bis hin zu eventkulturell boomenden Rätselerlebnissen – Krimidinner, Escape-Rooms –, die nicht ohne soziale Interaktion funktionieren. Hier fehlt es bisher an einer Analyse, die volkskundliche, literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze integriert und so den Wandel des Rätsels als kontextuelle Form in den Blick nehmen kann.

Der zweite Grund für eine Revision ist die vor allem literaturgeschichtlich relevante Beobachtung, dass mit dem angeblichen Untergang des Rätsels im 19. Jahrhundert neue populäre Gattungen wie der Schauerroman, der Detektivroman oder die phantastische Erzählung entstehen, die das Rätsel als konstitutives Strukturmerkmal verwenden und die sich im 20. Jahrhundert und bis heute großer Beliebtheit erfreuen. Darauf und auf die gesellschaftlichen Auswirkungen des Rätsels in populärer Literatur seit dem späten 19. Jahrhundert hat Luc Boltanski hingewiesen. Seine wegweisende Studie, die soziologische und literaturanalytische Fragestellungen verknüpft, gilt es dringend mit den älteren volkskundlichen und literaturwissenschaftlichen Arbeiten zum Rätsel in Verbindung zu bringen.

Gewissermaßen komplementär dazu verhält sich der dritte Grund, sich über den Abgesang des Rätsels zu wundern: die Stellung des Rätsels in der Kunst- und Kulturtheorie. Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Walter Benjamin, Helmut Plessner, Theodor W. Adorno, Emmanuel Lévinas – sie alle haben dazu beigetragen, das Rätsel zu einer Konstante theoretischer Gesellschaftsanalysen des 20. Jahrhunderts zu formen. Auch hier zeigt sich, dass das Rätsel als Sozialform nicht mit der gesellschaftlichen Relevanz des Volksrätsels schwindet, sondern dass es sich vielmehr transformiert, rekontextualisiert und als neues Organisationsprinzip menschlicher Interaktion und ihrer Analyse fungiert. Wie diese theoretischen Überlegungen mit der literarischen Gattungsgeschichte zusammenhängen oder wie sich die hochkulturelle Wertungskategorie eines ›Rätselcharakters der Kunst‹ mit der Transformation des Rätsels in der Populärkultur zusammenbringen lässt, sind Fragen, deren Bearbeitung überfällig ist.

Aus diesen drei Gründen lässt sich die Hypothese formulieren, dass das Rätsel in der Moderne keineswegs verschwindet oder auch nur an Relevanz einbüßt, sondern dass es, ganz im Gegenteil, zu einem Grundpfeiler moderner Wahrnehmungs- und Sozialformen avanciert. Das moderne Rätsel taucht immer dort auf, wo die geteilte Wirklichkeit auf dem Spiel steht (vgl. Gamper 2017, 93f.). Das belegt nicht nur seine konstitutive Funktion für die Schauer- und Kriminalliteratur oder die Phantastik – nebenbei bemerkt Gattungen, die um 1800 komplementär zum literarischen Realismus entstehen und die das 19. Jahrhundert entscheidend geprägt haben. Für seine Relevanz in modernen Realitätsaushandlungen sprechen auch die rätselkonstitutiven Strukturen der Doppelbödigkeit, die diese literarischen Gattungen mit psychoanalytischen, soziologischen und sogar konspirationistischen Analysen teilen. Das Rätsel markiert einen Riss in der Realität. Es bedroht die Ordnung der (erzählten) Welt und provoziert zu ihrer Wiederherstellung. Im Volksrätsel, im Detektivroman, im Escape-Room, in der Philosophie: Immer geht es beim Rätselraten darum, ausgehend von einem schier unlösbaren ›Fall‹ theoretische, soziale und ästhetische Lösungen zu suchen und sich der Ordnung der geteilten Realität zu versichern.

  1. Analysen der sozialen Dimension fragen danach, wer an dem Kommunikationsakt des Rätsels beteiligt ist. Auch die Kontextbedingungen des Rätselstellen und -ratens, von der medialen Vermittlung über eventkulturelle Rahmungen, gilt es hier zu beobachten. Da das Rätsel oft mit der vielbeschworenen Formkategorie ›Sitz im Leben‹ erklärt wird, sind einerseits Fragen nach dem Wandel des Lebensweltbezugs, andererseits auch solche nach der Aussagekraft der Formkategorie im Vergleich mit anderen, etwa textpragmatischen oder ludologischen Erklärungsmodellen relevant.

    • Wie lassen sich Diagnosen des Verlusts einer sozialen Dimension in der Moderne (von einer kommunalen, oralen Tradition des Rätselerzählens hin zu einer sozialen Isolation von Fernsehquiz, Kreuzworträtsel etc.) mit neuen Formen zusammenbringen, die das Rätsel als Gemeinschafts-Spiel neu erfinden (bspw. Escape-Room, Black Stories, Pen&Paper)?
    • Welche Räume für gemeinschaftliches Rätsellösen existieren on- und offline (Cheatcodes/walk-throughs für Videospiele, Foren für Austausch, Krimirätsel auf der Jugendfreizeit, …)? Und wer sind die beteiligten Figuren in den Rätselprozessen der Moderne? Wer sind die Rätselsteller*innen, wer die Propheten und klugen Bauerntöchter, die diese lösen?
    • Was macht in den sozialen Kontexten der Moderne den Reiz von Rätseln aus? Wie verhalten sich die unterschiedlichen Bedürfnisbefriedigungen in der Rätselrezeption zueinander: das Rätsellösen an sich, die Inszenierung des Rätsels (bspw. über die Genre-Tropen und literarische Welten, die Exit-Games zur Kostümierung austauschbarer Logik-Rätsel nutzen) und der soziale Aspekt des Spiels?

  2. Analysen der Macht- bzw. Wissensdimension fragen danach, was verrätselt wird und warum. Im Zusammenhang mit dem Verlust der sozialen Dimension des Rätsels betont bspw. Claudia Schittek, dass das in der Moderne im Rätsel erfragte Wissen »existentiell nichts bedeutet« (Schittek 1991, 23). Es wäre also zu prüfen, inwiefern sich die Inhalte von Rätseln gewandelt haben, ob anthropologisch-existenzielle Inhalte (Tod, Leben, Natur, Obszönität, Alltag …) tatsächlich verschwunden sind, oder ob sich hinter dieser Beobachtung nicht wiederum die These angeblicher moderner Degeneration verbirgt.

    • Welche Rolle spielt noch die Operationalisierung von Rätseln als Prüfungsfragen oder Zugangsformeln?
    • Wo lassen sich in der Moderne Erben anderer als der ludistisch-heuristischen Funktion des Rätsels finden?
    • (Wie) Lässt sich aus der Machtstruktur des Rätsels (bspw. Halslöserätsel) eine Brücke zur modernen (Populär-)Kultur/Literatur schlagen (Rätsel als Wettkampf zwischen Täter*in und Ermittler*in im Kriminalroman, Escape-Rooms inszenieren ›Entkommen‹ als Belohnung, …)?

  3. Analysen der phänomenalen Dimension fragen danach, wo und in welcher Form Rätsel vorkommen. Die linguistische Bestimmung des Kommunikationsaktes ›Rätsel‹ und die These einer medialen und materialen Heterogenisierung der Rätselform in der Moderne sind grundlegend für die Untersuchung von modernen Rätsel-Inszenierungen. Auch gilt es, die breite Streuung des Rätsels in ethischen sowie in Kultur- und Kunsttheorien (mit ihren jeweiligen Traditionen, bspw. der Physiognomie des 18. Jahrhunderts) kritisch zu reflektieren und deren Aussagewert für ästhetische Rätselphänomene zu vermessen.

    • (Wie) Lassen sich die heterogenen Rätselphänomene in einem Rätselheft oder Escape-Room (Suche nach Verstecken, verschlüsselte Nachrichten, Morse-Codes, Zahlencodes, Puzzlerätsel …) sinnvoll unter einer Kategorie ›Rätsel‹ zusammenfassen?
    • Auf welche Weise nehmen konspirationistische Theorien Rätsel in Dienst, wenn sie eine Unterwanderung der Realität mit ›realerer Wirklichkeit‹ behaupten und ihre Vertreter*innen als Wissende inszenieren?
    • Welche Rolle spielt die Funktionslogik der Rätsellösung in wissenschaftlichen Disziplinen und Methoden der Moderne, bspw. in Psychoanalyse oder Soziologie?

  4. Analysen der ästhetischen Dimension fragen letztlich nach dem Wie, den Darstellungsweisen des Rätsels, und untersuchen das Rätsel als Zeichenkomposition. Ob und wann das Rätsel als Text (im erweiterten Sinn) vorliegt, ob und wann es auf ikonische Zeichen zurückgreift, wie sich das Text-Bild-Verhältnis auf Formen der Verschlüsselung auswirkt und die Rückwirkung dieser Verhältnisse auf Fragen der Gattungs- und Medienästhetik sind hier von Interesse.

    • In welchen Genres gehen Rätsel auf, wo finden sie als kleine Form Eingang (Sonderrollen des Rätsels für Kriminalromane und Phantastik/Fantasy)? Wo tritt das Rätsel als Textstruktur auf (bspw. im Detektivroman), wo als Ereignis im Text (bspw. in Abenteuernarrationen) und wo trägt es zur Ästhetik des (Noch-)Nicht-Wissens bei (bspw. in der Gothic Novel)? Ergeben sich hier genrehybridisierende Überschneidungen?
    • Wo (im raumzeitlichen Sinn) finden sich Rätsel in der Moderne? Wie verhält sich die Inszenierung von Rätseln (bspw. durch Einbettung in eine ›exotische‹ oder historische Kulisse; in Turandot ebenso wie in zahlreichen Exit-Games) zur Diagnose einer verrätselten Wirklichkeit? Wie ließe sich die Diagnose, dass Rätsel vor allem von den ›Anderen‹ ins moderne Europa eingeführt werden, mit postkolonialen Ansätzen untersuchen?
    • Welche medienbedingten Formveränderungen lassen sich feststellen (bspw. die Komprimierung von Kriminalerzählungen auf Playbooks und Bastelvorlagen für Escape-Boxen)? Und inwiefern können existierende Ergebnisse der Rätselforschung, die sich vornehmlich auf die ästhetische und logische Struktur des Volksrätsels stützen, noch genutzt werden, um das multimodale Rätsel zu kategorisieren? Worum müssen diese angesichts der Vielfalt moderner Rätselphänomene erweitert werden?

Geplant ist ein eintägiger interdisziplinärer Workshop, der Perspektiven aus Literaturwissenschaft, Soziologie, Game Studies, Medienwissenschaft und Philosophie in Kurzimpulsen zusammenbringt. Dieser Workshop bildet die Grundlage für eine Publikation, die weniger den Charakter eines klassischen Tagungsbands haben, sondern systematisch das Forschungsfeld erschließen wird. Die hier skizzierten Desiderate sollen durch eine enge Zusammenarbeit der Forschungsgruppe in Grundlagenforschung zum Rätsel in der Moderne überführt werden.

Bei Interesse senden Sie bis zum 15. August 2022 einen kurzen Abstract an Dana Steglich und Eva Stubenrauch. Der Abstract sollte darlegen, wo Sie Überschneidungen zwischen Ihrer Forschung und dem Thema »Rätsel in der Moderne« sehen bzw. welche Aspekte des Rätsels Sie aus Perspektive Ihrer Disziplin auf dem Workshop beleuchten wollen. Reise- und Übernachtungskosten werden vom ZfL übernommen.

https://www.zfl-berlin.org/veranstaltungen-detail/items/das-raetsel-in-der-moderne.html

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Fields of research

Literary historiography, Interdisciplinarity, Literature and psychoanalysis/psychology, Literature and media studies, Poetics, Literary genre, Literature of the 19th century, Literature of the 20th century
Rätsel

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Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL)

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Berlin
Germany
Date of publication: 01.08.2022
Last edited: 01.08.2022