Konferenzen, Tagungen

Desynchronisiertes Ich. Literarische, psychologische, philosophische und theologische Perspektiven auf die Psychopathologie der Zeit (1890-1950)

Beginn
12.09.2019
Ende
14.09.2019

Tagung des Teilprojekts „Les journées ne durent plus“. Die Psychopathologie der Zeit in der deutschen und französischen Literatur vom ausgehenden 19. bis zum mittleren 20. Jahrhundert, DFG-Schwerpunktprogramm „Ästhetische Eigenzeiten“

Karlsruher Institut für Technologie, Forstliches Bildungszentrum Karlsruhe, 12.-14.9.2019

Konzeption und Organisation: Maximilian Bergengruen (KIT), Sandra Janßen (KIT)

Keine Philosophie der Zeit kommt in der Moderne ohne die Prämisse aus, dass Zeit sich nicht auf ihre Messbarkeit reduzieren lässt – dass also auch andere Zeitformen anzunehmen sind, die etwas mit Subjektivität und psychischer Eigendynamik zu tun haben. Wenn es aber so etwas wie eine subjektive, psychische Eigenzeit gibt, kann diese dann auch pathologisch werden? Diese Frage begleitet nicht nur die Psychiatrie/Psychologie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, sondern wird zeitgleich als philosophisches Problem verhandelt und findet, bisweilen unter Rückgriff zeitgenössische (para-)theologische Überlegungen aus dem Bereich der Lebensmystik, Eingang in die ästhetische Praxis.

Mit der Psychiatrie/Psychologie, der Philosophie, der Literatur und der Lebensmystik sind vier Diskursstränge genannt, die sich im Problemzusammenhang von pathologisch bedingten Devianzen in der Zeitwahrnehmung spätestens mit Beginn des 20. Jahrhunderts überkreuzen. Die Rekonstruktion dieser Überkreuzungen ist Ziel des vorliegenden Tagungsprojekts.

Ein möglicher Einsatzpunkt von philosophischer Seite liegt in der Zeitphilosophie Henri Bergsons, insbesondere in der Konzeption einer von der messbaren Zeit unterschiedenen durée, deren Konzeption von Zeit undFreiheit (1889) über Materie und Gedächtnis (1896) bis zur Schöpferischen Evolution (1907) reicht. Mit Bergson ist eine philosophische Position markiert, gegenüber der sich andere Zeitphilosophien wie die Max Schelers und Martin Heideggers positionieren bzw. abgrenzen müssen. Ermöglicht und begünstigt wird eine Verbindung zur Psychiatrie durch den Umstand, dass auch die philosophischen Ansätze zum Thema Zeit auf die Psychiatrie zurückgreifen. So rekurriert beispielsweise Bergson 1908 auf die pathologische Form des Déjà-vu und Scheler bei seinen Überlegungen zur Mensch/Tier-Differenz auf die Ideenflucht.

Angesichts dieses Rückbezugs der Philosophie auf die Psychiatrie verwundert es nicht, wenn, umgekehrt, ab den zwanziger Jahren Psychiater wie die Bergsonianer V. E. von Gebsattel, Erwin Straus und Eugène Minkowski und der Heideggerianer Ludwig Binswanger psychiatrische Konzepte explizit auf zeitgenössischen Zeitphilosophien aufbauen, ja bisweilen in ihren psychiatrischen Arbeiten einen Beitrag zur philosophischen Existenzanalytik zu leisten beanspruchen. Zwischen den Vertretern einer „konstruktiv genetischen Psychopathologie“ (Karl Jaspers), die bestimmte psychische Krankheiten und deren gegenüber der Umwelt verändertes Zeit-Erleben auf eine „vitale Hemmung“ zurückführen (Gebsattel),  und Vertretern eines phänomenologisch orientierten Ansatzes, die auf bergsonianische Prämissen verzichten, wird so eine produktive Debatte geführt. Zu diesen Zeit-Krankheiten gehören der Wahn im Allgemeinen und die Schizophrenie im Besonderen, aber auch die manisch-depressive Psychose sowie epileptische und epileptoide Zustände, die Minkowski „Glischroïdie“ nennt. Vor allem aber werden Depression und Zwangsdenken in den Blick genommen, von denen wiederum angenommen wird, dass das „Zeitmoment“ die gemeinsame „Wurzel“ bzw. das „Kardinalsymptom“ darstellt, durch die sie mit den wahnhaften Krankheiten verbunden werden (Gebsattel/Straus). Diese Pathologien lassen sich als unterschiedliche Formen von Desynchronisation beschreiben.

Es wäre jedoch ein Irrtum, zu glauben, dass alle Psychopathologie der Zeit aus der geschilderten philosophischen-psychiatrischen Konstellation entstanden wäre. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert gibt es umfangreiche psychiatrische Überlegungen in Bezug auf die Fehlformen psychischer Zeitwahrnehmung, insbesondere bei Amnesie und Trauma (Charcot, Janet, Ribot), die aber vor allem das Erinnern, also das Verfügenkönnen über die Vergangenheit problematisieren. Sie stellen also keine Desynchronisation im Sinne einer veränderten Qualität des Zeiterlebens dar, wie es ab den 1920er Jahren im Zentrum steht, werfen aber das Problem des zeitlichen Selbstverhältnisses auf, das die Freudsche Psychoanalyse mit ihrem Regressionsbegriff dann noch grundsätzlicher angeht. 

Es ist auffallend, dass die Zeitpsychiater der Zwanziger- und Dreißigerjahre nicht nur auf Bergson und andere Philosophen verweisen, sondern verschiedentlich darauf aufmerksam machen, dass die europäische Literaturen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts das Problem der Desynchronisation von Ich und Umwelt bereits in vielen Punkten vorgedacht und ausformuliert hätten. Wollte man dieser literarischen Vorgeschichte der Desynchronisation des Ich nachgehen – und genau das soll auf der Tagung geschehen –, wäre im Sinne der oben genannten Analyse der Überkreuzung der Diskursstränge zu überlegen, inwieweit die zu untersuchenden Autoren einerseits zeitphilosophische Überlegungen, andererseits psychiatrische Theoreme literarisch adaptieren und diese für Figurencharakterisierung, Handlungsführung und poetologische Reflexion miteinander kombinieren.

Beispielsweise lässt sich an den Texten der Wiener Moderne, man denke an Arthur Schnitzler oder Hugo von Hofmannsthal, eine Kenntnis psychiatrischer Theorien zu Trauma und Amnesie, andererseits verschiedene zeitphilosophische Überlegungen nachweisen, bisweilen auch bereits in ihrer Überschneidung, z. B. in der literarischen Auseinandersetzung mit dem Déjà-Vu. Fälle wie der Alfred Döblins, der Zeitwahrnehmungs-Problematiken nicht nur in seinen literarischen, sondern auch seinen psychiatrischen Arbeiten (dort im Übrigen im impliziten Rückgriff auf Bergson) verhandelt, verdienen in diesem Zusammenhang besondere Beachtung. Weiterhin lässt sich etwa für Prousts mémoire involontaire behaupten, dass sie eine Brücke zwischen der Zeitphilosophie Bergsons und der pathologischen Psychologie der Jahrhundertwende in Frankreich schlägt; Gottfried Benn schließlich verhandelt zeitaufhebende Ekstasen und Alleinheitserfahrungen im Zusammenhang mit Meskalinrausch und Schizophrenie.

Es soll auf der Tagung jedoch nicht nur darum gehen, die Verflechtungen zwischen Literatur‑, Philosophie und und Psychologiegeschichte hinsichtlich der Zeitproblematik zu beschreiben, sondern auch darum, zu untersuchen, wie diese mit anderen, etwa religiösen oder parareligiösen Zeitvorstellungen verbunden werden: mit mystischer Zeitlosigkeit und/oder der Vorstellung von Endzeitlichkeit in Eschatologie und Apokalyptik. Es ist zu vermuten,  dass die Neuetablierung der Vorstellung einer von der physikalisch-objektiven geschiedenen subjektiv-psychischen Zeit in der Literatur auch theologische Modelle wie etwa Eckharts um 1900 vielzitiertes mystisches „nû“ einbezieht. Gleiches ließe sich für endzeitliche Vorstellungen, sei es in der apokalyptischen, sei es in der chiliastischen Variante, sagen. In diesem Zusammenhang wären Autoren wie Alfred Döblin, Robert Musil, Hermann Broch oder Georges Bataille zu befragen.

 Ein weiteres wichtiges Augenmerk soll schließlich auf der Frage liegen, wie literarische Texte ‚verzerrte‘ Zeitlichkeit im Medium von Erzählformen oder Gattungen erfahrbar machen. Es liegt auf der Hand, zu vermuten, dass die Darstellung einer desynchronisierten Zeitwahrnehmung vollkommen neue narrative Strategien benötigt, vielleicht ja solche, aus deren Geist nicht weniger als die Literatur der Moderne entsteht.

 

   

Programm

Donnerstag, 12.9.2019

14.00             Maximilian Bergengruen, Sandra Janßen: Begrüßung und Einführung

14.30             Volker Hess (Berlin): Die Eigenzeit der Krankheit: Chronizität und Periodizität in der Psychiatrie

15.45             Cornelius Borck (Lübeck): Die Zeit der Psychopathologien der Zeit

                     Moderation: Maximilian Bergengruen

17.30             Rudolf Behrens (Bochum): Geldzeit / Zeitgeld in La coscenza di Zeno. Simmel bei Svevo

                     Moderation: Maximilian Bergengruen

   

Freitag, 13.9.2019

10.00             Barbara Chitussi (Modena): Crise de la présence et paradigmes de l’action

11.15             Eva Weber-Guskar (Berlin): Zwischen Moment und Ewigkeit. Warum wir für eine lebendige Gegenwart Vergangenheits- und Zukunftsbezug brauchen. Eine These der philosophischen Phänomenologie des 20. Jahrhunderts

                     Moderation: Sandra Janßen

14.00             Nicola Gess (Basel): Zwischen Wahn und Wundern. Eigenzeiten des Staunens von Descartes bis Einstein

15.15             Marie Guthmüller (Bochum/Berlin): Heiligwerden, Heiligsein? Zum Zeitparadox hagiographischen Schreibens in der Moderne

                     Moderation: Helmut Hühn

17.00             Maximilian Bergengruen (Karlsruhe): Zwischen apokalyptischem Denken und Psychopathologie: Alfred Ehrensteins „Tubutsch“.

                     Moderation: Burkhardt Wolf

   

Samstag, 14.9.2019

9.45               Sandra Janßen (Karlsruhe): Zeitlosigkeiten in Hermann Brochs Tod des Vergil

                     Moderation: Burkhardt Wolf

11.30             Armin Schäfer (Bochum): Der „Augenblick, wo ihm alles tanzend gehörte“. Zeit und Psychose in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften

12.45             Burkhardt Wolf (Wien): Das verpasste Rendezvous. Zeit und Angst

                     Moderation: Nicola Gess

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literatur aus Deutschland/Österreich/Schweiz, Französische Literatur, Italienische Literatur, Literatur und Psychoanalyse/Psychologie, Literatur und Kulturwissenschaften/Cultural Studies

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Ansprechpartner

Einrichtungen

Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Institut für Germanistik: Literatur, Sprache, Medien
Beitrag von: Sandra Janßen
Datum der Veröffentlichung: 02.09.2019
Letzte Änderung: 02.09.2019