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Hermeneutik heute? – Ein Call der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik zur Krise des Textverstehens

Deadline Abstract
15.07.2021

»Wie hält es die Germanistik mit der Hermeneutik?« – Lässt sich die Hermeneutik derart heute noch oder wieder zur Gretchenfrage von Literaturwissenschaft und Linguistik stilisieren? Wäre eine Rückkehr der Hermeneutik angesichts der allseits zu beobachtenden, tiefgreifenden Probleme des Verstehens in und zwischen den Kulturen, ihren Diskursen und Medien nicht auch wissenschaftlich ein Gebot der Stunde? Wie steht es überhaupt mit dem Hermeneutik-Verständnis innerhalb einer Germanistik, in der sich die Vertreter*innen der einzelnen wissenschaftlichen Ausrichtungen gegenseitig immer weniger verstehen? Sieht die Germanistik für ihr eigenes, disziplinäres Selbstverständnis überhaupt eine Chance darin, hermeneutische Idealvorstellungen des Verstehens entschieden aufzugreifen und zu aktualisieren? Oder befindet sie sich bereits so grundsätzlich in einem post-hermeneutischen Zeitalter, dass ältere, philosophische oder rekonstruktive Vorstellungen des Textverstehens für sie als obsolet scheinen müssen? – Fragen wie diese wirken aktuell dringlich, ergeben aber insgesamt auch einen veritablen Gordischen Knoten, dessen Auflösung sich wohl nur durch eine Vielzahl von einzelnen Antworten aus unterschiedlichen Perspektiven anvisieren lässt.

Die Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik hat daher ein Heft für möglichst pointierte Diagnosen und Voten aus den verschiedenen Bereichen der Germanistik reserviert, nicht nur um die theoretischen Haltungen und Meinungen zur Hermeneutik, ihren Traditionen, Spielarten, Weiterentwicklungen und Kritiken im Rahmen der jeweiligen germanistischen Teildisziplinen und Richtungen zu erfragen. Vielmehr geht es auch darum, den praktischen Stellenwert zu ermitteln, den das hermeneutische Methoden- und Wahrheitsverständnis überhaupt noch – oder auch gerade wiederhat. Im Hintergrund steht dabei die naheliegende Vermutung, dass die wiederholt diagnostizierten Krisen zwischen kulturalistischer und digitaler Wende im Punkt der Krise des Textverstehens zusammenlaufen.

Dezidiert als krísis des Textverstehens begriffen, die den hermeneutischen Ursprungsort der kritischen Beurteilung von Bedeutung und Sinn bildet, liefert diese Vermutung ausreichende Gründe zur Nachfrage, ob die Germanistik diese Schwierigkeiten nicht nur zu beklagen hat, sondern inwiefern sie auch durch ihre eigenen Verfahren an der besagten Krise beteiligt ist. Ist sie daher überhaupt methodisch in der Lage, sich angemessen auf die aktuellen Verstehens- und Verständnisprobleme einzustellen? Erbeten werden dazu kürzere Voten und Essays, die vom aktuellen Stellenwert der Hermeneutik aus der Sicht des jeweiligen fachlichen Schwerpunktes ausgehen.

Gefordert scheint in diesem Zusammenhang nämlich eine fachlich möglichst weit stratifizierte Bestandsaufnahme. Sie könnten zunächst etwa an den elementaren Problemen des Textverstehens ansetzen, die im schulischen Zusammenhang bei Kindern und Jugendlichen beobachtbar sind. Konnte man es sich zunächst mit der Haltung bequem machen, das Problem des Textverstehens sei durch den unkontrollierten Einfluss der digitalen Medien bedingt, so hat sich die Digitalisierung durch die Corona-Krise derartig tief in die vorherige Bildungskrise eingeschrieben, dass man ihr die Lösung zu einem Problem zutraut, an dem sie zuvor schon beteiligt war. Wenn die linguistische, literarische oder literaturwissenschaftliche Hermeneutik hier Hilfestellungen geben soll, ist sie zuerst auf die Beobachtungen und Diagnosen aus den Bereichen von Schule einerseits und germanistischer Fachdidaktik andererseits angewiesen, die sich aktuell auf veränderte Herausforderungen einstellen müssen.

Die akademische Lehre steht nach ihren mühevollen Versuchen im Feld der digitalen Lehre vor ganz ähnlichen Schwierigkeiten, die im letzten Jahr insbesondere der offene Brief ›Zur Verteidigung der Präsenzlehre‹ hat deutlich werden lassen. Dass die Argumente für die Präsenslehre für hermeneutisch orientierte Geisteswissenschafter*innen mit einschlägiger Lern- und Lehrerfahrung evident erschienen, im Gegenzug aber auch von zahlreichen Kommentator*innen aus den digitalen, sog. neuen sozialen Medien aufgrund ihrer technischen Nutzungskalküle prompt in Abrede gestellt wurden, zeugte sofort von jenem Hiat, vor dem der Brief warnen wollte. Diese Differenz zwischen hermeneutischem Lehr- und praktischem Lernverständnis dürfte nach einem weiteren, weitestgehend digitalen Semester noch deutlicher geworden sein. Ob sie sich ohne eine entschiedenere argumentative Berücksichtigung der Hermeneutik als kultureller- und kulturwissenschaftlicher Praxis überbrücken lässt, wäre angesichts der institutionellen Erfahrungen im Bereich der Hochschullehre zu erfragen.

Diese Argumente werden sich gemäß der einzelnen disziplinären Schwerpunkte und Forschungsrichtungen innerhalb der Linguistik und Literaturwissenschaften unterschiedlich darstellen, da sie auf verschiedene Begriffstraditionen rekurrieren können. Wie sich diese Begriffskontexte mit ihren impliziten Berücksichtigungen hermeneutischer Grunderwägungen oder aber auch unausgesprochenen Ablehnungen interpretieren lassen, verdient im Rahmen einer Gesamtdiagnose besondere Beachtung, ist aber letztlich nur über Einzelexpertisen zu klären. Daher sind hier Stellungnahmen zum verdeckten Begriffsgebrauch oder zu unausgewiesenen hermeneutischen Praktiken hochwillkommen. 

Was die expliziten Begriffsbemühungen angeht, haben die Herausgeber*innen der LiLi auf das irritierende Phänomen der ›Bindestrich-Hermeneutiken‹ hingewiesen, das den universalen Anspruch der philosophischen Hermeneutik in das Dilemma hineinführt, für Spezialbereiche oder -methoden Einzelhermeneutiken zu reklamieren, damit aber jenen Universalitätsanspruch des Verstehens (von Verstehen) aufzulösen, von dem die Hermeneutik insgesamt abhängt (vgl. Hartmut Bleumer, Stephan Habscheid, Constanze Spieß, Niels Werber: »Bindestrich-Hermeneutiken – Neue Verortungen der Lektüre?«. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 50, H. 4 (2020), S. 563-580 [https://doi.org/10.1007/s41244-020-00185-w]). Diese Entwicklung scheint dadurch begünstigt zu werden, dass die Hermeneutik als Ganzes in der Linguistik zum Teil gar kein Interesse findet, ihr Grundverständnis in der Literaturwissenschaft dagegen traditionellen Vereinfachungstendenzen unterliegt, die von den avancierteren Anregungen der jüngeren philosophischen Diskussion wenig Notiz nimmt. Deshalb wäre aber entschiedener danach zu fragen, welche grundsätzlichen Spuren die hermeneutische Praxis in den Methoden von Lehre und Forschung hinterlassen hat. Diese forschungsgeschichtliche Akzentuierung dürfte etwa für die germanistische Mediävistik und die neuere Literaturwissenschaft zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, wobei sich zeigen könnte, dass die aktuelle Krise des Textverstehens, in der die neuere Literaturwissenschaft ihren eigenen, historischen Medienumbruch beobachten kann, sie an die Mediävistik heranrückt, die diesen Umbruch als Aspekt einer literaturwissenschaftlichen Hermeneutik zwischen Modernität und Alterität seit längerem berücksichtigt.

»Wie hält es die Germanistik mit der Hermeneutik?« – Die verschiedenen Stellungnahmen zu dieser Frage müssten also einerseits dazu beitragen können, den aktuellen Zustand der Germanistik noch einmal besser zu verstehen. Andererseits müssten sie in ihrer Bandbreite aber auch eine Übersicht ermöglichen, wie sich die Literaturwissenschaft und Linguistik hinsichtlich der aktuellen Verstehenskrise aufgestellt haben. 

Nicht zuletzt: Vielleicht möchte man auch einfach der Larmoyanz eines Krisengeredes widersprechen, zu dem es angesichts der aktuellen wissenschaftlichen Weiterentwicklung wenig Anlass gibt. Bestenfalls die medial forcierte Beschleunigung der kulturellen und wissenschaftlichen Veränderungen könnte dann ein Problem sein, weil die Wissenschaft in weiten Teilen einfach kaum mit deren Tempo noch mithalten kann, ewig verspätet wirkt und so vor einem eigenen, historischen Verständnisproblem steht. Wäre damit aber nicht die klassische Aufgabe der Hermeneutik wieder zurückgekehrt?

Vorschläge in Form von Essays als Statements von ca. 4-6 Seiten sowie – nach vorheriger Rücksprache mit den Herausgeber*innen – als längere Beiträge (ca. 15 Seiten) werden an die Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik bis zum 15.07.2021 erbeten. Die Stellungnahmen werden von dem Herausgebergremium gesichtet und ausgewählt. Sie werden gesammelt als Dezemberausgabe der LiLi (51, H. 4, 2021) erscheinen. Aufgefordert werden insbesondere auch Wissenschaftler*innen der Auslandsgermanistik, sich an der Ausschreibung zu beteiligen. 

(Vgl. diesen CfP, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 51, H. 4 [2021], S. 559-562)

   

Kontakt

H. Bleumer

Seminar für Deutsche Philologie

Georg-August-Universität Göttingen

Göttingen, Deutschland 

E-Mail: hbleume@gwdg.de

S. Habscheid

Germanistisches Seminar

Universität Siegen

Siegen, Deutschland

E-Mail: habscheid@germanistik.uni-siegen.de

N. Werber

Germanistisches Seminar 

Universität Siegen

Siegen, Deutschland

E-Mail: werber@germanistik.uni-siegen.de

C. Spieß

Institut für Germanistische Sprachwissenschaft

Philipps-Universität Marburg

Marburg, Deutschland 

E-Mail: constanze.spiess@uni-marburg.de

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Hermeneutik

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Datum der Veröffentlichung: 26.03.2021
Letzte Änderung: 26.03.2021